Ecuador und das Dilemma im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen

Seit 2019 haben Gewalt und Unsicherheit in Ecuador exponentiell zugenommen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die dramatischen Entwicklungen im Januar 2024. Eine Welle der Gewalt brach über das Land herein.

Ein Beitrag von Daniel Kempken (LAF Berlin e.V.)

Seit 2019 haben Gewalt und Unsicherheit in Ecuador exponentiell zugenommen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die dramatischen Entwicklungen im Januar 2024. Eine Welle der Gewalt brach über das Land herein. Ein Fernsehsender wurde während des laufenden Programms gekapert. Kriminelle Gruppierungen töteten Bürgermeister:innen und Staatsanwält:innen. Dem mächtigen Drogenbaron „Fito“ gelang es, aus der Haftanstalt zu fliehen und unterzutauchen. Die Gründe für diese besorgniserregenden Entwicklungen sind vielschichtig.¹

Ausnahmezustand

Die neue Regierung reagierte schnell und mit Entschlossenheit. Sie erklärte am 09.01.2024 den Ausnahmezustand, der nach den Worten des Präsidenten als landesinterne Kriegserklärung an die Drogenmafia zu verstehen sei. Seitdem geht die ecuadorianische Armee gegen 22 als terroristisch eingestufte kriminelle Gruppierungen mit militärischen Mitteln vor. Bis dato von der Organisierten Kriminalität kontrollierte Gefängnisse wurden wieder unter staatliche Kontrolle gebracht. Die extrem repressiven Maßnahmen fanden in Ecuador parteiübergreifend Zustimmung. Sie führten dazu, dass zunächst eine relative Ruhe einkehrte und die Tötungsdelikte zurückgingen.

Verfassungsrechtliche Absicherung

Nach Art. 166 der ecuadorianischen Verfassung kann der Ausnahmezustand für maximal 60 Tage angeordnet und nur für weitere 30 Tage verlängert werden. Entsprechend dieser Rechtslage führte die Regierung am 10.04.2024 sowohl ein Referendum zur Verfassungsänderung als auch einen Volksentscheid über die von ihr vorgesehenen beziehungsweise bereits veranlassten Maßnahmen durch.

Die der Bevölkerung vorgelegten Fragen waren zuvor von der Regierung dem Verfassungsgericht vorgelegt worden. Durch Entscheidungen beziehungsweise Gutachten vom 26.01.2024 und 05.04.2024 hatte das Gericht insgesamt elf Fragen zugelassen. Nicht zugelassen wurden weitere zehn Fragen zu den Handlungsmöglichkeiten von Militär, Polizei, Sicherheitsdiensten und Gefängnisverwaltungen, zur Ausweisung von Ausländer:innen, zu Sondergerichten, Vermögenseinziehungen, Evaluierung der Justiz, illegalem Bergbau sowie zu wirtschaftlichen Fragestellungen.

Das verfassungsändernde Referendum gemäß den Anlagen 1 und 2 der Verfassung umfasste fünf Fragen, von denen drei die Zustimmung der Bevölkerung fanden:

  • Unterstützung der Nationalpolizei durch das Militär bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität
  • Auslieferung von unter hinreichendem Tatverdacht stehenden Ecuadorianer:innen
  • Sondergerichte für Rechtsgarantien, insbesondere Haftprüfungsverfahren.

Zwei Vorschläge zu umstrittenen wirtschaftlichen Maßnahmen – die Anerkennung internationaler Schiedsgerichte und Änderungen im Arbeitsrecht – wurden abgelehnt.

Bei der Volksbefragung stimmte eine Mehrheit folgenden sechs Maßnahmen zu:

  • Verkehrs- und Gefängniskontrollen durch das Militär
  • Höhere Strafen für unter anderem Terrorismus, Drogenhandel, Organisierte Kriminalität, Tötungsdelikte, Menschenhandel, Entführungen, Geldwäsche
  • Keine Haftverkürzungen bei schweren Straftaten
  • Verschärfung des Waffenrechts
  • Nutzung von konfiszierten Waffen durch Sicherheitskräfte
  • Vereinfachung von Vermögenseinziehungen.

Unter dem Strich wurden durch Referendum und Volksbefragung die Möglichkeiten der Justiz und der Sicherheitskräfte, insbesondere des Militärs, erweitert und Maßnahmen gesetzlich ermöglicht, die bisher nur im Ausnahmezustand möglich waren.

Maßnahmen und Erfolge

Die Generalstaatsanwaltschaft führte im März 2024 zwei groß angelegte Operationen (Metástasis – Metastase und Purga – Säuberung) gegen die Korruption und die Unterwanderung des Staates durch die Organisierte Kriminalität durch. Sie richtete sich hauptsächlich gegen mehr als 50 höherrangige Amtsträger:innen der Legislative, der Judikatur und der Verwaltung. Unter anderem wurden der Präsident des Justizrates, die Ex-Präsidentin des Gerichtshofes der Provinz Guyas, weitere Richter:innen, Staatsanwält:innen und Parlamentsabgeordnete  aufgrund von Korruptionsdelikten und Zusammenarbeit mit dem Organisierten Verbrechen verhaftet. Es handelte sich um Erfolge in der Strafverfolgung, die aber auch deutlich machten, wie weit die Infiltration staatlicher Institutionen bereits gediehen war.

Insgesamt wurden zwischen Januar und März 2024 etwa 17.000 Personen verhaftet. Die Gefängnisse blieben unter der wirksamen Kontrolle der Militärs. Die zuvor drastisch gestiegenen Mordraten gingen zwischen Januar und April 2024 um 27% zurück. Doch bereits Ende März war wieder ein Anstieg der allgemeinen Kriminalität, insbesondere der Erpressungen und Entführungen, zu verzeichnen. Es gibt weiterhin politisch motivierte Morde.

Gefahren für Rechtsstaat und Menschenrechte

Das Militär genießt ein recht hohes Ansehen in Ecuador; es wird allerdings kritisiert, dass die Armee nicht über die geeignete Ausbildung wie polizeiliche Sicherheitskräfte verfüge und durch die neuen Aufgaben bisher nicht gegebenen Korruptionsgefahren ausgesetzt werde.

Die Auslieferung von Straftäter:innen und die Sondergerichtsbarkeit für Haftprüfung können abschreckende Wirkung haben, aber auch zu besonders drastischen Gegenreaktionen der Organisierten Kriminalität führen. Offen bleibt auch die Frage, auf welche Weise die Sicherheit der in diesem Bereich tätigen Richter:innen sowie der Staatsanwält:innen gewährleistet werden kann.

Es wird insbesondere kritisiert, dass die Erklärung eines internen bewaffneten Konflikts nicht vom internationalen Recht gedeckt sei und dass die Sicherheitsmaßnahmen zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt hätten.²

Hartes Durchgreifen und komplexe Reformen

Damit steht eine zentrale Frage im Raum, die sich gleichermaßen in anderen Ländern mit einer ähnlichen Gewaltproblematik und relativ schwachen Institutionen stellt: Wie verbindet man erforderliche polizeiliche Zwangsmaßnahmen, kompromisslose Strafverfolgung und konsequente Disziplinierung der Gefängnisse mit der genauso notwendigen Achtung der Menschenrechte sowie der Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahren.

Polizeiliche und militärische Maßnahmen mit entsprechenden Sonderrechten der bestehenden Sicherheitskräfte können zumindest vorübergehend für eine gewisse Ruhe und öffentliche Sicherheit sorgen, wie der Fall El Salvador gezeigt hat. Doch gleichzeitig häufen sich dort ungerechtfertige Verhaftungen sowie grobe Verletzungen von Menschenrechten und rechtsstaatlicher Verfahren. Der Ruf nach Sicherheitskräften, die nicht nur in der Bekämpfung des Verbrechens, sondern auch im Bereich der Achtung der Menschenrechte gut ausgebildet sind und nach einer effizienten, nach internationalen Standards arbeitenden Strafverfolgung ist also mehr als berechtigt. Der Aufbau entsprechend einwandfreier Institutionen beinhaltet vielfach die Durchführung umfangreicher Antikorruptionsmaßnahmen.

Zur Umsetzung solch komplexer Reformen benötigen Regierung und Justiz starken politischen Willen, die Bereitschaft der Opposition, konstruktiv mitzuwirken, umfangreiche Finanzmittel sowie die Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft. Die Größe und Komplexität der Aufgabe führt außerdem dazu, dass Erfolge sich nicht von heute auf morgen einstellen können.

Das Dilemma

Daher stellt sich quasi zwangsläufig die Frage, wie weit in der Übergangszeit eine Politik der harten Hand gehen darf, um eine Ausweitung des Organisierten Verbrechens zu verhindern und möglichst schnell ein notwendiges Minimum an öffentlicher Sicherheit zu gewährleisten. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit repressiver Maßnahmen. Denn die Organisierte Kriminalität wird ihre verbrecherischen Aktivitäten nicht ruhen lassen, bis sich eine rechtsstaatlich einwandfrei agierende Staatsmacht formiert hat – im Gegenteil. In Anbetracht der eskalierenden Gewalt ist die ecuadorianische Regierung also zumindest vorübergehend mit einem Dilemma konfrontiert.

Aktuell scheint es noch offen zu sein, wie der ecuadorianische Staat dieses Spannungsverhältnis zwischen notwendigen und von der Bevölkerung eingeforderten repressiven Maßnahmen und dem ebenso notwendigen Schutz der Menschenrechte lösen wird. Die ecuadorianische Innenministerin legt jedenfalls Wert darauf, dass trotz der harten Vorgehensweisen die Menschenrechte geachtet werden sollen.³

Unabhängig von diesem Dilemma müssen neben der Strafverfolgung Präventionsmaßnahmen gegen Korruption und Kriminalität eine deutlich höhere Bedeutung gewinnen als dies bisher der Fall war.

¹ Daniel Kempken, Quo vadis Ecuador? Lateinamerika-Forum Berlin

² Human Rights Watch, Ecuador: Unchecked Abuses Since „Armed Conflict“ Announcement

³ Teleamazonas, Mónica Palencia: Hemos logrado operaciones con gran respeto a los derechos humanos 

Der Autor Daniel Kempken ist Mitglied im Präsidium des Lateinamerika-Forums Berlin e.V.. Er arbeitet als freier Berater für Rechtsstaatsförderung und Antikorruption. Von 2000 bis 2005 war er Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes in Ecuador. Danach hat er das Land regelmäßig besucht.