MAS wieder an der Regierung, Sieg der Mitte-Rechts-Parteien in Brasilien, die Schlachtgesänge der Unidad Popular auf Plätzen und Straßen Chiles – der Titel „Rückwärtswende? Wahlen in Bolivien, Plebiszit in Chile und Kommunalwahlen in Brasilien“ wurde nicht von ungefähr gewählt. Doch hat sich Lateinamerika in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark verändert …
Bolivien ¡Sorpresa! Gregor Barié führte den hohen Wahlsieg von Luis Arce (MAS) auf dreierlei zurück: 1. seine Zeit als erfolgreicher Wirtschaftsminister während den Regierungen von Evo Morales, 2. einen klaren Plan und sein Versprechen, Stabilität zu garantieren (seine Gegner hatten dagegen nur einen Inhalt: MAS verhindern) und 3. die Erfahrung von Gewalt und Rassismus, die von der Übergangsregierung Áñez ausgegangen war. Arce konzentriert sich erst mal auf die wirtschaftliche Stabilisierung angesichts Corona und den Herausforderungen der so stark polarisierten Gesellschaft. Das Modell des Extraktivismus und der nachholenden Industrialisierung steht also derzeit nicht zur Diskussion. Wie weit er die dringenden Probleme in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Justiz und Korruption angehen wird (und kann), bleibt abzuwarten. Evo Morales ist zurück aus dem Exil und wieder Vorsitzender der MAS. Schauen wir, welchen Einfluss er auf die Regierung Arce haben wird. Insgesamt ist der Ausblick auf Boliviens Zukunft gedämpft optimistisch, entnehmen wir Gregor Bariés Worten.
Chile ¡Alegria! In Chile ist die neue Verfassung trotz gigantischem Erfolg beim Plebiszit und den Massenmobilisierungen längst keine beschlossene Sache. Entscheidend – so Hugo Calderón – werden die nächsten Monate sein, in denen es um die Besetzung der 155 Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung gehen wird. Weltweit einmalig: das Gremium wird gender-paritätisch besetzt sein! Die Frauen- und feministische Bewegung ist in den letzten Jahren zu einer entscheidenden politischen Größe geworden.
Nach dem Wahlgesetz obliegt es den Parteien, die Kandidat*innen zu bestimmen. Nun aber herrscht ein tiefes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber diesen und der „politischen Klasse“. Werden die Parteien sich für „unabhängige“ Kandidat*innen öffnen? Für Hugo Calderón ist ein Austausch der politischen Eliten unabdingbar. Diese aber werden nicht freiwillig das Handtuch werfen. Sie setzen auf ihre Diffamierungskampagnen (die Linke als Verantwortliche von „Anarchie, Chaos, Gewalt, Zerstörung des Eigentums und der Familie“), die aufgebauten bürokratischen Hürden, die Uneinigkeit der Mitte-Links-Parteien und schließlich die Politikverdrossenheit der Bevölkerungsmehrheit. Sie kämpfen für den Erhalt der bestehenden Verfassung. Die Linke hofft auf die Protestbewegung, die etwas Unerwartetes erreicht hatte: Chile ist aufgewacht! Die Tür zu einer neuen Verfassung ist aufgestoßen.
Brasilien schaute gespannt auf diese Kommunalwahlen als möglichen Stimmungsbarometer für die Regierung Bolsonaro. Helga Dressel stellte in ihrem Eingangsstatement allerdings fest, dass in der Regel die lokale Situation für die Kandidat*innenauswahl ausschlaggebend war. Wer verlor, wer gewann?
Schaut man nur auf die Besetzung der Bürgermeister*innenposten der Hauptstädte, so gehörten zu den größten Verlierer*innen
1. Präsident Bolsonaro, der keinen seiner Kandidaten als Bürgermeister*in in einer Landeshauptstadt installieren konnte (seine Unterstützung schien plötzlich sogar kontraproduktiv) aber auch
2. die Arbeiterpartei PT, die ebenfalls keinen dieser Posten erringen konnte.
Gewonnen dagegen haben eindeutig die Mitte-Rechts-Parteien. Wichtig aber ist den Blick auch auf die Ebene unter den Bürgermeister*innen zu lenken: noch nie waren so viele Afro-Brasilianer:innen, Frauen und Trans in die Stadtparlamente eingezogen. Die Zunahme an Diversität ist ein wichtiges Merkmal dieser Kommunalwahl.
Innerhalb der Linken ist mit der links-sozialistischen Partei PSOL der Arbeiter:innenpartei eine echte Konkurrenz entstanden. Mit einem klugen, bei der Jugend ankommenden Wahlkampf erreichte Spitzenkandidat Boulos immerhin die Stichwahl in São Paulo und in Belem gewann die PSOL sogar die Bürgermeisterwahl. Eine gute Basisarbeit zahlt sich aus.
Die Arbeiterpartei ist zwar nicht abgestürzt, doch schaffte sie es noch immer nicht, das ihr über Jahre hinweg von den Massenmedien angehängte Image abzuschütteln, sie sei die einzige Verantwortliche für die Korruptionsaffären der Vergangenheit. Fake News lassen grüßen. Peinlich war das Abschneiden der Linken in Rio de Janeiro, wo sich diese nicht auf eine*n Kandidat*in hatte einigen können und so zwei rechte Kandidaten in die Stichwahl gekommen waren.
Vor kurzem noch verzeichnete Bolsonaro überraschend hohe Zustimmungswerte von über 50%, offensichtlich beflügelt durch die Pandemiehilfen (die allerdings der Kongress gegen seinen Willen durchgesetzt hatte). Jetzt aber scheint Bolsonaros Stern zu sinken. Möglich, dass ihn die herrschende Klasse bei den nächsten Präsidentschaftswahlen fallen lassen und auf das gerade siegreiche Mitte-Rechts-Bündnis setzen wird.
In der Schlussrunde stellten die Podiumsteilnehmenden fest, dass man mit Aufmerksamkeit beobachte, was in den Nachbarländern geschieht. Der Ruf nach politischen Reformen ist überall zu hören. Vor allem Peru schaut mit großem Interesse nach Chile.
Die Spielräume für eine progressive Politik haben sich mit den verschiedenen Wahlen in Lateinamerika (einschließlich den US-Wahlen) wieder etwas erweitert. Dazu leisteten die Protestbewegungen ihren Beitrag.
Auf dem Podium: Gregor Barié, Hugo Calderón und Helga Dressel. Durch das Gespräch führten: Juliana Ströbele-Gregor, Didice Godinho Delgado und Werner Würtele.
Weiteres zu der Veranstaltung und den Referent:innen entnehmen Sie bitte der Ankündigung hier
Doch machen Sie sich am besten selbst ein Bild von der Veranstaltung: sie beginnt mit Bolivien (7:40-30.40), dann Chile (bis 44:00) und schließlich Brasilien (bis 01:05): Hier die Aufzeichnung. Bevor es zu Missverständnissen kommt: der Begriff „Wahlbetrug“, der im Zusammenhang mit den Wahlen in Bolivien 2019 auftaucht, ist aus unserer Sicht zu übersetzen mit Verstoß gegen Verfassung und Wahlgesetz.
Ein Rückblick von Werner Würtele