Lateinamerika neu betrachten

Am 10. Februar 2023 zelebrierte das Lateinamerika-Forum Berlin e.V. das 30. Jubiläum in den Räumlichkeiten des Lateinamerika-Instituts Berlin. Im Folgenden lesen Sie den Vortrag von Claudia Zilla.

Ein Beitrag von Claudia Zilla zum 30. Jubiläum des LAF Berlin

Guten Abend und vielen Dank für die Einladung! Das LAF Berlin wird 30 Jahre alt – herzlichen Glückwunsch! Auch ich hatte in diesem Jahr einen runden Geburtstag – nein, leider nicht den 30. Aber in wenigen Monaten ist es 30 Jahre her, dass ich aus Buenos Aires zum Studium nach Deutschland, genauer gesagt nach Heidelberg, gekommen bin, so dass ich heute sagen kann, dass ich mich – wie das LAF – seit 30 Jahren mit Lateinamerika beschäftige.

Der Titel meines Beitrags „Lateinamerika neu betrachten“ stammt nicht von mir, sondern von den Veranstaltenden. Ich möchte mich aber nicht von diesem Titel distanzieren, sondern mit ihm arbeiten. Lateinamerika neu betrachten…, das beinhaltet zwei implizite Aussagen. Erstens, dass wir Lateinamerika nicht zum ersten Mal betrachten, und zweitens, dass dieser wiederholte Blick ein anderer ist oder sein sollte. Lateinamerika neu betrachten hieße also: Lateinamerika noch einmal anders betrachten. Wobei sich unter anderem folgende zwei Fragen stellen: Erstens, wo dieser Blick geographisch, institutionell, sozial, geschlechtsspezifisch etc. verortet ist, d.h. um wessen Perspektive auf Lateinamerika es sich handelt, und zweitens, wie neu, wie anders dieser Blick sein kann oder sollte, was logischerweise ein Wissen um die Beschaffenheit des bisherigen Blicks voraussetzt.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich heute auf zwei verschiedene Perspektiven eingehen. In einem ersten Schritt möchte ich mich kurz damit befassen, was in meinen Augen die übliche politische und journalistische Perspektive auf Lateinamerika in Deutschland ist. In einem zweiten Schritt möchte ich erläutern, was ich sehe, wenn ich heute auf Lateinamerika blicke und zwar in den Bereichen Demokratie und Staatlichkeit sowie Entwicklung und Nachhaltigkeit.

Zu meinem ersten Punkt: Beruflich stehe ich in engem Kontakt mit Politik und Medien. Mein Eindruck ist, dass die politische und journalistische Perspektive auf Lateinamerika in Deutschland in ihrer Art stabil und in ihrer Intensität zyklisch ist. Warum zyklisch: Die Aufmerksamkeit wird von Krisen getrieben, von Krisen in Lateinamerika, die von hier aus sehr oft als Umbruch oder Aufruhr bezeichnet werden, und von Krisen in Europa, die Deutschland veranlassen, in Lateinamerika nach politischen Verbündeten zu suchen – oder nach Rohstoffen. Warum stabil: Weil seit langem schon Narrative wie „natürliche Partner“, „gemeinsame Werte“, „Dialog auf Augenhöhe“ den europäischen und deutschen Diskurs über die biregionalen Beziehungen dominieren, ohne dass diese an die sich verändernde Realität wachsender struktureller Asymmetrien und politischer Divergenzen zwischen beiden Regionen angepasst worden wären. Kurzum: Mir scheint, Lateinamerika wird in Politik und Medien in Deutschland generell auf wiederkehrend ähnliche, aber nicht ganz zutreffende Weise betrachtet. Daher die wichtige Rolle vom LAF, andere, vielfältige Perspektiven auf Lateinamerika anzubieten.

Meine beiden anderen Punkte beziehen sich auf die Ambivalenzen und Herausforderungen, die ich zu identifizieren glaube, wenn ich Lateinamerika heute betrachte.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Einerseits erleben die meisten Länder der Region ihre längste demokratische Phase. Andererseits folgt Lateinamerika dem globalen Trend der demokratischen Erosion. Einige Regime haben an demokratischer Qualität verloren, andere haben sogar die Schwelle zwischen Demokratie und Autokratie überschritten. Das Vertrauen der Bürger:innen in die demokratischen Institutionen ist alarmierend niedrig, während die wachsende Rolle des Militärs im Inneren, in einigen Fällen sogar in der Politik, besorgniserregend ist. Demokratisch gewählte Politiker:innen sind in der Regel nicht mehr bereit, sich regional für eine wehrhafte Demokratie einzusetzen. Nach einer Phase der Einführung von Demokratieklauseln im Rahmen regionaler Organisationen haben die Regimefrage und die regionalen Zusammenschlüsse an Relevanz verloren. Lateinamerika ist eine Region frei von Atomwaffen, ohne zwischenstaatliche Kriege aber mit einem ungeheuren Gewaltproblem. Die große soziale und bürgerrechtliche Ungerechtigkeit, geprägt von Diskriminierung, setzt das demokratische Gleichheitsprinzip stark unter Druck. Die Unzufriedenheit von Bürger:innen macht sich breit, die Abwahl der Amtsinhaber:innen dominiert, so dass wir noch nicht wissen können, ob tatsächlich eine neue rosa-rote Welle entsteht. Einen demokratisierenden Impuls sehe ich in den feministischen Bewegungen, die in den letzten Jahren in Lateinamerika sichtbarer geworden sind. Dem stehen aber die weltweit höchsten Frauenmordraten gegenüber. Mit den Frauen komme ich zu meinem dritten und letzten Punkt.

Entwicklung und Nachhaltigkeit: Im Kontext der COVID-19-Pandemie wurde die Erwerbsbeteiligung von Frauen in der Region um mehr als ein Jahrzehnt zurückgeworfen. Mit nur 8 Prozent der Weltbevölkerung entfallen auf Lateinamerika etwa 12,5 Prozent aller COVID-Infektionen und etwa 26 Prozent der Todesfälle (Stand: 11.12.2022). Die Region war also überproportional von der Pandemie betroffen. Nachdem die Armutsrate im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts halbiert werden konnte, steigt sie nun wieder an und betrifft heute mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Etwa die Hälfte der Erwerbstätigen arbeitet im informellen Sektor. Lateinamerika ist reich an Wäldern, Süßwasser, Biodiversität und Rohstoffen. Ich glaube nicht, dass es an Konzepten für eine nachhaltige Entwicklung mangelt. Vielmehr fehlt es an politischem Willen, regionaler Koordination und den notwendigen Technologien und Investitionen, um sie umzusetzen. Auch das internationale Umfeld ist derzeit nicht günstig. Die Intensivierung der Beziehungen zu China – vor allem der südamerikanischen Staaten –sollte zu einer Diversifizierung der Außenbeziehungen beitragen, hat aber zu einer Re- Primarisierung der Exportpalette geführt. Da immer mehr Rohstoffe abgebaut und unverarbeitete Produkte exportiert werden, streben viele Regierungen nun eine Reindustrialisierung an. Makroökonomisch ist der Anteil Lateinamerikas an der Weltwirtschaft in den letzten zehn Jahren von knapp 8 Prozent auf rund 5 Prozent
gesunken. Und Lateinamerika ist nach wie vor die Weltregion mit der größten sozialen Ungleichheit.

Fazit: Ich glaube, ich habe in Lateinamerika schon bessere oder hoffnungsvollere Entwicklungen gesehen. Sicherlich ist das kein fröhlicher Überblicksbeitrag zu einem Jubiläum. Aber ich denke, dass nach 30 Jahren Beschäftigung mit dem Subkontinent eine gewisse Reife für einen nüchternen Blick auf die Region erreicht ist.

Vielen Dank!

Hier finden Sie weitere Beiträge des Jubiläumsfestes:
Krieg – Frieden – Gewalt in Lateinamerika | Sabine Kurtenbach
30 Jahre LAF Berlin | Werner Würtele
Das LAF heute | Kristin Bergen, Daniel Kempken, Maria Angela Torres-Kremers, Achim Wachendorfer,