Was ist los in Peru?

In Peru hat das Parlament am Nikolaustag 2022 den Präsidenten Pedro Castillo abgesetzt und die Vizepräsidentin Dina Boluarte zur neuen Präsidentin ernannt. Seitdem gibt es im ganzen Land Unruhen. Die Demonstrant:innen fordern Neuwahlen – alle sollen gehen. Was dahintersteckt ist in folgendem Kurzbericht von Annette Brox der Informationsstelle Peru sowie in dem Artikel ‚Was ist […]

In Peru hat das Parlament am Nikolaustag 2022 den Präsidenten Pedro Castillo abgesetzt und die Vizepräsidentin Dina Boluarte zur neuen Präsidentin ernannt. Seitdem gibt es im ganzen Land Unruhen. Die Demonstrant:innen fordern Neuwahlen – alle sollen gehen. Was dahintersteckt ist in folgendem Kurzbericht von Annette Brox der Informationsstelle Peru sowie in dem Artikel ‚Was ist los in Peru? Sechs Fragen und Antworten zur aktuellen Krise‘ nachzulesen.

 

Kurzbericht zur Online-Veranstaltung zu den aktuellen politischen Ereignissen in Peru


Hildegard Willer
schildert, was seit 7. Dezember passiert ist:
Am 7.12. war eine Abstimmung im Kongress angesetzt, mit der der Kongress Präsident Pedro Castillo des Amtes entheben wollte. Es war der dritte Versuch. Zwei Drittel der Stimmen (87 Stimmen) waren dafür nötig, und es war nicht sicher, ob diese erreicht würden. Doch Pedro Castillo kam dem zuvor: Um 12 Uhr verkündete er, dass er den Kongress auflösen und die nächsten Monate per Notstandsdekreten regieren würde. Schnell stellte sich heraus, dass er für seine „Selbstputsch“ keine Unterstützung hatte: Seine Minister*innen traten nacheinander zurück; nach einer guten Stunde war dann auch klar, dass Polizei und Militär ihn nicht unterstützen würden. Der Kongress setzte Pedro Castillo mit 101 gegen sechs Stimmen bei zehn Enthaltungen ab. Keine zwei Stunden später ernannte das Parlament die bisherige Vize- präsidentin Dina Boluarte zur ersten Präsidentin Perus.

Mit ihrer Einsetzung ist die demokratische Ordnung einstweilen wieder hergestellt. Boluarte, eine 60-jährige Juristin und ehemalige Leiterin eines Einwohnermeldeamtes, war ein Jahr lang Sozialministerin in der Regierung Castillos. Sie verfügt über keinen eigenen politischen Rückhalt. In ihrer Antrittsrede distanzierte sie sich vom Putschversuch ihres Vorgängers, kündigte ein breit aufgestelltes Kabinett an und dass sie bis 2026, dem Ende der Legislaturperiode, im Amt zu bleiben gedenke. Aber eine große Mehrheit der Peruaner*innen möchte auch die Abgeordneten loswerden. Nach den starken landesweiten Protesten hat Dina Boluarte nun Neuwahlen für April 2024 angekündigt.

César Bazán Seminario gibt eine kurze juristische Einordnung:
Peru ist im Gegensatz zu Deutschland keine parlamentarische Demokratie, sondern eine Präsidialdemokratie. Der Präsident wird also direkt gewählt, nicht vom Parlament. Doch das Parlament hat die Möglichkeit, den Präsidenten abzuwählen, mit der „Vacancia por incapacidad moral“ (Amtsenthebung wegen moralischer Unfähigkeit). Umgekehrt kann der Präsident den Kongress auflösen, wenn dieser zweimal ein Misstrauensvotum gegen ihn angestrengt hat. Vorgezogene Neuwahlen sind nicht einfach möglich, dazu braucht es eine Verfassungsänderung.

Andreas Baumgart schaut ein bisschen weiter zurück:
In den sozialen Bewegungen gab es schon länger große Diskussionen über die Haltung gegenüber Castillo. Die einen sind der Meinung, Castillo als Präsident sei besser, als dass Fujimoristas oder Klerikal-Faschisten an die Macht kommen. Die anderen sagen „que se vayan todos“, dass also alle Politiker*innen gehen sollten. Diese Forderung wird schon länger stark aus der Bevölkerung heraus artikuliert.

Im Parlament wollten sowohl Konservative als auch Teile der Partei Perú Libre, für die Castillo kandidiert hatte, dass Castillo abgesetzt, aber nicht der Kongress aufgelöst wird. (Denn dann würden sie Macht und ihre Immunität verlieren.)

Obwohl Dina Boluarte, die erste Frau an der Spitze des Landes, im Parlament nicht beliebt ist, hat sie möglicherweise weniger Gegenwind aus dem Parlament als Castillo. Denn würde auch sie gestürzt, würde der Parlamentspräsident ihr Nachfolger und es müsste Neuwahlen geben. Die Proteste, die jetzt landesweit stattfinden, sind spontane Äußerungen breiter Teile der Bevölkerung.

Eine wichtige Rolle könnte Antauro Humala spielen. Gründer und Anführer der ethnocaceristischen Bewegung. Seit er aus der Haft entlassen wurde, organisiert er bewaffnete Milizen. Er kündigte wörtlich an: „Wir sammeln Milizen, stürmen das Parlament und erschießen alle Politiker.“

Die Lage ist also sehr unsicher. Es ist offen, was weiter passieren wird. Sicher ist aber, dass es weiter große Auseinandersetzungen und viel mehr Repressionen geben wird.

Fragen & Diskussion:

Wiederholung desselben?
Die Situation erscheint wie ein „Dejà vu“. Warum wiederholen sich ähnliche Situationen immer wieder? Würde eine parlamentarische Demokratie, also die Wahl des Präsidenten durch das Parlament, in dieser Lage helfen? Dann müsste der Präsident nicht gegen eine Parlamentsmehrheit regieren. Bei einem Kongress mit extremer rechter Mehrheit birgt dies allerdings auch Gefahren.

Ein Unterschied zu den letzten Protesten nach den Amtsenthebungen ist, dass Castillo in einigen Regionen der Anden noch eine größere Unterstützung genießt als die letzten Präsidenten. Eine Änderung des Präsidialsystems wird diskutiert, aber noch nicht sehr durchschlagend.

Im Jahr 2000 begann in Peru ein demokratischer Aufbruch (mit demokratischen Wahlen, dem Einsetzen der Wahrheitskommission etc.). Drei Präsidenten regierten eine komplette Legislaturperiode lang. Danach begann die Krise des politischen Systems: Der Odebrecht-Skandal deckte auf, dass alle drei Präsidenten des „demokratischen Aufbruchs“ korrupt waren. Seither gibt es in der Bevölkerung ein tiefes Misstrauen gegen das demokratische System. Es scheint, als könne dieses ohne Korruption nicht funktionieren.

Wie realistisch ist eine Reform des Wahlrechts?
Einer der Gründe für die politische Krise ist das Fehlen starker politischer Parteien. Schon 2016 hat der JNE (Jurado Nacional de Elecciones) einen Vorschlag zur Wahlreform gemacht, um die Parteien zu stärken. Doch die verschiedenen Parlamente haben die Vorschläge nie diskutiert. Es gab vielmehr Rückschritte: Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen. Damit kommen nach jeder Wahl neue, unerfahrene Parlamentarier*innen in den Kongress. Wenn starke demokratische Parteien fehlen, spielt die Form des Systems – parlamentarisch oder präsidial – keine große Rolle. Ein großes Problem ist die Möglichkeit der „Amtsenthebung wegen moralischer Unfähigkeit“, das ist wie ein „erleichtertes Impeachment“. Nach der Amtsenthebung Vizcarras gab es ein Urteil dazu. Dabei wurde aber nicht genau definiert, wann das Parlament dieses Instrument anwenden darf.

Wie ist die Sicherheitslage?
Eine aktuelle Landkarte zeigt, dass in vielen Regionen des Landes protestiert wird. Am stärksten sind die Proteste in Andahuaylas. Die Proteste werden sicherlich andauern, wahrscheinlich eher noch zunehmen. Mehr Gewalt und Repression ist zu befürchten. Gerade ist es deshalb nicht angezeigt, in Peru zu reisen, auch wenn es noch keine Reisewarnung der Bundesregierung gibt.

Was ist von dem neuen Kabinett um Dina Boluarte zu halten?
Dina Boluarte ist Rechtsanwältin. Sie war vor ihrer Wahl nicht sehr bekannt. Man hat bisher wenig von ihr mitbekommen. Sie ist keine radikale Parteigängerin von Perú Libre. Die Partei hat sich vielmehr von ihr distanziert. Boluarte war lange Sozialministerin, man hörte während dieser Zeit wenig von ihr, weder Positives noch Negatives. Jetzt ist sie unbeliebt, weil sie das abgesprochene Spiel mitgemacht hat und deshalb als Verräterin gilt. Sie hat keine eigene Macht im Parlament. Perú Libre solidarisiert sich jetzt mit Castillo und fordert seine Freilassung, obwohl sie ihm vorher das Leben als Präsident schwer gemacht haben.

Auch der neue Premierminister ist Rechtsanwalt.

Die Zusammenstellung der Minister*innen ist so prekär wie vorher. Die ernannten Minister*innen gehören zum Teil zur rechten Opposition. Vielleicht kann die Regierung auf mehr Unterstützung aus dem Parlament hoffen, das Interesse an einer Beruhigung der Situation hat. Das ist aber nicht sicher. Es kann auch sein, dass Kongressabgeordnete weiter an der Absetzung von Minister*innen arbeiten. Es gibt dabei aber wenige Absprachen zwischen Parteien, vielmehr individuelle Persönlichkeiten, Charaktere und Strategien.

Welche Haltung hat die Opposition?
Alle rechten, konservativen Parteien haben sich mehr oder weniger aufgelöst, sie suchen sich noch irgendwelche „Wanderkandidaten“, die oft schon bei anderen Parteien waren. Auch die Fujimori-Partei existiert so gut wie nicht mehr. Die Parteien sind untereinander zerstritten und gespalten. Deshalb gibt es keine gemeinsame Strategie, aber dennoch gemeinsame Grundlagen: Rassismus (deshalb darf es keinen „cholo aus den Anden“ als Präsidenten geben), Ablehnung von Sozialreformen und Wertekonservatismus. Dies ist die gemeinsame Wertegrundlage der konservativen Parteien, darüber hinaus liegen auch sie im Streit.

Die Parteien wissen, dass es schwer wird, Neuwahlen durchzusetzen. Denn die Kongressabgeordneten wollen keine Neuwahlen, bei denen sie ihr Amt verlieren würden. Dass sie ihre Haltung ändern, scheint unwahrscheinlich.

Wenn die Unruhen stärker werden, könnte es auch einen Putsch geben. Wie wahrscheinlich das ist, ist schwer einzuschätzen, viele halten es für unwahrscheinlich.

Parteien als Spiegelbild der Gesellschaft?
Es scheint, als gebe es eine Wechselwirkung zwischen dem informellen Funktionieren der peruanischen Gesellschaft, wo jede*r auf den unmittelbaren Vorteil schaut, und dem Funktionieren des Kongresses: Auch hier steht immer der unmittelbare Vorteil für die Gruppierung oder einzelne Abgeordnete vor einem gemeinsamen Vorgehen und gemeinsamen Strategien. Politik funktioniert also nicht anders als die Gesellschaft, sie ist vielmehr ihr Spiegel.

Wie steht es mit den linken Parteien?
Auch die linken Parteien sind zerfallen und gespalten. Sie waren nicht in der Lage, eine gemeinsame, dauerhafte Struktur zu schaffen. Interessen einzelner Gruppen oder Personen führen zu Spannungen. Es gibt zwar viele Initiativen, die die Linke wieder zusammenbringen wollen, aber dabei selber die kleine Gruppierung bleiben. Eine gemeinsame Strategie ist nicht erkennbar, es besteht nicht einmal Konsens darüber, ob eine Wiedereinsetzung Castillos oder Neuwahlen besser wären.

Unterstützung für Neuwahlen aus dem Parlament wird es wohl eher nicht geben bzw. nur dann, wenn es genügend öffentlichen Druck gibt.

Wie kann es jetzt weitergehen?
Die Proteste nehmen zu, es sind gewaltsame Auseinandersetzungen zu befürchten. Eine politische Lösung ist daher sehr dringend, damit die Lage nicht weiter eskaliert. Die für April 2024 angekündigten Neuwahlen kommen für die Menschen viel zu spät. Andererseits würden baldige Neuwahlen keine Lösung darstellen, wenn es keine funktionierenden demokratischen Parteien gibt. Dies kann sich allerdings auch bis 2024 nicht substanziell ändern. Welche Chancen hat die Demokratie dann überhaupt noch? Wo ist das Licht am Ende des Tunnels?

Viele Linke verfolgen die Idee, dass es erst eine verfassungsgebende Versammlung geben soll, deren Mitglieder von der Bevölkerung gewählt werden. Dort sollten alle Fragen diskutiert werden. Dies würde das demokratische System stabilisieren. Dieser Vorschlag wurde von Castillo nicht verfolgt, obwohl er Teil seines Wahlprogramms war. Schließlich hat er die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung doch eingeführt, aber sehr zaghaft, und die Mehrheit im Parlament war der Meinung, dass ein verfassungsgebendes Verfahren nur durch das Parlament, und nicht durch einen Volksentscheid umgesetzt werden soll. Daraufhin wurde dieser Gesetzesentwurf ad acta gelegt. Diese Forderung kommt aber jetzt wieder von der Straße. Eine verfassungsgebende Versammlung ist vielleicht die einzige Chance dafür, dass sich ein neues, demokratisches System entwickelt, eine Garantie gibt es nicht. Aus dem Parlament heraus und ohne Wahlreform bestehen keine Chancen, dass bei Neuwahlen die Kandidat*innen besser sind als beim letzten Mal.

Die Terminierung von Neuwahlen ist verfassungsrechtlich festgelegt, sie können nicht einfach vorgezogen werden.
Der Verfassungsgerichtshof könnte Teil einer Lösung sein. Seine Richter sind nicht mehr so konservativ wie noch letztes Jahr. Von drei Richtern könnte man etwas Positives erwarten. Von den großen Medien kann man sich nichts erhoffen, sie waren immer auf Seiten der (ultra)konservativen Opposition und für die Amtsenthebung Castillos. Aber es gibt auch alternative Medien und soziale Bewegungen, diese sind auch eine Hoffnung. Alternative Medien, die gute Informationsquellen sind: OjoPúblico, noticiasser, Wayka, IDL- Reporteros, Ideeeleradio, Sendung No Hay Derecho, La Encerrona (Podcast), Epicentro (TV); und natürlich der Newsletter InfoPeru der Infostelle.
Und hier noch ein Link zur Haltung der Katholischen Kirche in der derzeitigen Krise


Zum Schluss
Wir sollten die Hoffnung behalten, dass soziale Bewegungen und kritisch denkende Menschen es schaffen, wieder stärker zusammen zu kommen und eine stärkere politische Kraft zu werden. Aber das dauert sicher einige Jahre. Aktuell und kurzfristig gibt es wenig Grund zu Optimismus. Die Gefahr des Rufes nach einem starken Durchgreifen, sprich nach einem Diktator besteht durchaus. Auch das Agieren von Antauro Humala ist gefährlich.

Mit einer kleinen Wahlreform und Neuwahlen wird sich die gleiche Situation wiederholen. Wo soll eine bessere Alternative herkommen? Ohne grundlegende Reformen besteht die Gefahr eines „Perpetuum mobile“. Durchbrechen kann man das nur mit ökonomischen und sozialen Alternativen.

Das strukturelle Problem der peruanischen Demokratie ist älter als sechs oder sieben Jahre. Auch im „demokratischen Frühling“ gab es immer noch eine koloniale Machtverteilung. Das hat nicht nur mit Peru zu tun, sondern ist ein globales Thema. Dennoch müssen die Krise der Demokratie und der Regierungsstabilität jetzt in Peru gelöst werden. Die Hoffnung, dass dies bald gelingt, ist nicht groß.

Was dringend nötig ist: Solidarität für die Opfer der Polizeigewalt und Unterstützung der sozialen Bewegungen, die die Proteste organisieren.

Um die Hoffnung nicht zu verlieren, sollten wir die politische Realität nicht gleichsetzen mit den sozialen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen und der Kraft, die aus ihnen kommt.

Annette Brox (Infostelle Peru)

 

Beitragsbild: Flickr, Presidencia Perú, CC BY-NC-SA 2.0