Beiträge der Referent:innen zur ersten LAF-Online-Veranstaltung am 28.5.2020:
Paola Petruccelli, Geographin, Aus peruanischer Sicht
Peru gilt heutzutage als zweites lateinamerikanischen Land mit den meisten Fällen. 41% der Peruaner*innen haben den Job verloren und beziehen kein Einkommen mehr, vor allem informelle Arbeiter*innen und Arbeiter*innen von kleinen Unternehmen sind betroffen. Viele davon haben vor der Pandemie bereits sehr wenig verdient und haben deswegen keine Ersparnisse und zuudem kein Recht auf sozialen Schutz. Der “Bono Familiar Universal” ist eine der wenigen konkreten Hilfen, die als Unterstützung der ärmeren Haushalten (760 soles-ca. 200€) von dem “Ministerium für Entwicklung und soziale Inklusion” ausgegeben wurde.
Trotz des präventiven Krisenmanagements von Präsident Vizcarra sind die Zahlen der Infizierten noch sehr hoch. Hauptansteckungsorte sind die mercados, da wo viele Menschen miteinander in Kontakt kommen, häufig mit sehr wenig Schutz. Märkte gelten als Epizentrum der Ansteckung. Einkaufen ist eine der wenigen Aktivitäten, die noch erlaubt ist.
Zwei Beispiele stellte ich vor, um die derzeitige Situation zu veranschaulichen. Auf der einen Seite Andrea, die Teil der informellen Wirtschaft ist. Sie beschloss, diesen Weg zu beschreiten, damit sie nicht im Büro arbeiten muss und somit mehr Zeit mit ihrem kleinen Sohn verbringen kann. Seit der Ausgangssperre kann sie mit ihrem Job nicht weiter machen, aber sie hat versucht sich “neu zu erfinden” und backt Kuchen für Freund*innen und Nachbar*innen. Neuerfindungsprozesse stehen im Vordergrund in dieser komplizierten Situation und sind notwendig, um sich über Wasser zu halten.
Auf der anderen Seite Bruno, junger Eigentümer einer Firma für architektonische Gestaltung. Er ist ganz anders betroffen. Die Bauarbeiten mussten wegen der Ausbreitung des Virus eingestellt werden, und deshalb befindet nicht nur er sich in ökonomischen Schwierigkeiten, sondern ebenfalls seine Mitarbeiter*innen, die von ihm abhängen, und die er nicht weiterbezahlen kann.
Katharina Treubrodt, Aus mexikanischer Sicht
In Mexiko gibt es (Stand 27.5.2020) ca. 78.000 Fälle des Corona Virus und 8.597 Tote [aktualisiert 12.06.; Fälle: 133.974, Tote: 15.944]. Die ergriffenen Maßnahmen wurden von der Zivilgesellschaft unterschiedlich aufgenommen. Der Fokus der Kritik, gerade von jungen Student*innen, liegt aber beim Verhalten des mexikanischen Präsidenten Andres Manuel López Obrador (AMLO), der besonders zu Beginn wegen seiner Untätigkeit in Hinblick auf die Bekämpfung der Ausbreitung der Pandemie kritisiert wurde.
Dieses Machtvakuum am Anfang der Corona-Zeit haben mexxikanische Drogen-Kartelle ausgenutzt. Im Netz finden sich sog. Hilfsaktionen, bei denen Mitglieder der Kartelle, z.B. des Sinaloa-Kartells, des Kartells Jalisco Nueva Generación und des Golfkartells, Carepakete u.a. mit Nudeln, Reis und Hygieneartikeln in den barrios populares z.B. von Guadalajara verteilt haben. Diese Verteilungen wurden als „Werbeaktionen“ inszeniert, u.a. deutlich sichtbare Zeichen und Grußbotschaften der Kartelle auf den Kartons.
Im extremen Gegensatz zu diesen Hilfsleistungen der Kartelle steht die anhaltende Gewalt der organisierten Kriminalität, auch während des lock downs. Zwischen dem 15. und dem 21. Mai wurden z.B. offiziell 550 Menschen ermordet.
Ein besonderer Fokus muss hierbei auf der interfamiliären Gewalt liegen, die Frauen* und Kinder trifft. Gewalt gegen Frauen* war und ist insbesondere in Mexiko schon immer ein großes Thema. Das Problem ist wie überall auf der Welt, dass die Frauen* momentan in den Häusern mit den Tätern* eingeschlossen sind. Somit werden bereites existente patriarchale Gewalt- und Machstrukturen und die „cultura machista“ besonders deutlich, was sich vor allem in psychischer und körperlicher Gewalt gegenüber Frauen* äußert.
Öffentliche Aufmerksamkeit erregt derzeit insbesondere der Feminizid an der jungen Student*in Diana aus Nayarit, die am 24.05. in ihrem Haus ermordet wurde. Daraus ergab sich eine Welle des Protestes im Internet, die veranschaulicht, dass ein großer Teil der Arbeit der Feminist*innen momentan auch darin besteht, gegen die staatlichen Strukturen anzugehen, die versuchen, Gewaltvorfälle zu relativieren. Deswegen spielt auch das Internet eine so zentrale Rolle, als Ort der Vernetzung und des Aufschreis.
Eine zentrale Strömung ist derzeit z.B. #NosotrasTenemosOtrosDatos, allgemein steht alles unter dem Motto: La violencia machista y los Feminicidios NO están en cuarantena. Über die Lage der Frauen* in Mexiko wird aber auch Yndira Sandoval, eine mexikanische Feminst*in, im Rahmen unseres Social Media Projekts „COVID-19 – Mosaico de vo[c/z]es“ sprechen.
Darly Muñoz, Die kolumbianische Sicht – Herausforderungen für das Bildungssystem
Wie in den anderen lateinamerikanischen Ländern hat sich die Situation seit Beginn der Pandemie in Kolumbien verschärft. Seitdem der erste Corona-Fall am 6. März bestätig wurde, hat die Regierung strenge Maßnahmen umgesetzt, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Um neue Infektionen zu vermeiden, dürfen weder Schüler*innen, Studierende noch Dozierende in die Schule oder in die Universität gehen. Das war von Anfang an und ist immer noch eine große Herausforderung für viele öffentliche Schulen und Universitäten, weil diese Institutionen nicht auf online Formate vorbereitet waren. Vielen Dozierenden mussten sehr spontan und schnell ihre Lehrmethode auf Digital umwandeln.
Durch die Pandemie wird noch sichtbarer, wie groß die soziale Ungleichheit in Kolumbien ist. Während manche private Institutionen problemlos online unterrichten können, nutzen viele Lehrer*innen an öffentlichen Schulen Whatsapp zum Unterrichten. Außerdem In ländlichen Regionen, in denen knapp zwei Millionen Schüler*innen leben, haben viele Menschen hingegen keinen Zugriff aufs Internet und keinen Empfang. Hier zeigt sich die schlechte Infrastruktur und der mangelhafte Internetzugang in vielen Regionen Kolumbiens.
Nicht nur Schüler, sondern auch viele Studierende leiden unter der derzeitigen Situation. Viele Studierende sind sehr skeptisch in Bezug auf die digitale Lehre. Einige überlegen, ihr Studium abzubrechen, wenn auch das nächste Semester digital stattfinden sollte. Auch an den privaten Universitäten überlegen sich manche Studierenden, ob die digitale Lehre ohne Zugang zu der Infrastruktur vor Ort die sehr hohen Studiengebühren wert ist. Zudem werden viele nicht weiter studieren können wegen fehlender finanzieller Unterstützung.
Die größte Herausforderung für das kolumbianische Bildungswesen ist derzeit die schlechte Infrastruktur und der fehlende Internetzugang. Da es kaum soziale Sicherungssysteme gibt, leben viele Menschen unter prekären Bedingungen, was die Situation zusätzlich erschwert. In Kolumbien ist gute Bildung und insbesondere Hochschulbildung ein exklusives Gut. Etwa die Hälfte der Universitäten sind privat. Ungleicher Zugang zu Bildung ist ein strukturelles Problem in Kolumbien, das durch die Pandemie besonders sichtbar wird. Auch nach der Krise wird es hier noch viel Reformbedarf geben.
Janina Hahne, Die ecuadorianische Sicht
In Ecuador waren die ersten Fälle am 29.02.2020 registriert und kurz darauf wurde am 11.03.20 der medizinische Ausnahmezustand ausgerufen. Die folgenden Beschreibungen gehen auf Aussagen von Bekannten und Freund*innen in Ecuador zurück, die ich größtenteils selbst vor Ort kennen gelernt habe. Ich war bereits vier Mal im Land – das erste Mal im Rahmen eines Freiwilligendienstes nahe Quito (2012/13) und im Anschluss als ethnologische Feldforschungen in Pastaza.
Berichte über die Anfänge der Epidemie habe ich gegen Ende des letzten Aufenthaltes im Land mitbekommen. Medienmeldungen nennen in Zusammenhang mit dem gravierenden Verlauf von Covid-19 in Ecuador besonders die Ballungszentren Guayaquil und Quito, wobei die Küstenregionen gegenüber anderen Regionen die meisten Erkrankungsfälle verzeichnen. Teilweise können Tote nicht abtransportiert werden, was die Gefahr weiterer Krankheiten erhöht. Im Gebirge sind in den Provinzen Azuay und Tungurahua die meisten Fälle registriert, während in allen Regenwaldprovinzen jeweils weniger als 200 Fälle gemeldet sind. E
ine Bekannte aus Quito verweist darauf, dass die veröffentlichten Zahlen nicht repräsentativ und in manchen Fällen keine Registrierungen von Corona-Erkrankten möglich sind. Ihren Beobachtungen zufolge erleben informell tätige Menschen ökonomische Schwierigkeiten, die einige trotz der Erkrankung an Covid-19 zwingen, ihre Häuser zu verlassen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Bekannte in Quito und ein Freund, der in Puyo lebt und studiert, informieren über die Situation von Studierenden: Universitäten wurden wie auch Schulen geschlossen und der Unterricht auf Onlineveranstaltungen umgestellt. Fehlende technische Zugänge, Zukunftsängste und finanzielle Notlagen beeinflussen die Bildungssituation ebenfalls: Viele junge Menschen leben nicht mehr bei ihren Familien und sind somit auf ihren Verdienst angewiesen. Versprechungen seitens der Arbeitgeber*innen zur Auszahlung eines Lohnanteils existieren, doch sind teilweise keine Absprachen möglich
Im Amazonasgebiet sind zwar bislang weniger Erkrankungen gemeldet, doch erleben auch die Menschen hier fehlendes Engagement seitens der Regierung. Beispielsweise werden Informationen nicht auf indigenen Sprachen wie Shiwiar und Shuar weitergegeben. Und dies, obwohl kulturspezifische Ansprüche in der Landesverfassung verankert sind. Der Transport mit Regionalbussen ist bis zum heutigen Tag (18.06.20) nicht möglich, sodass Personen und Familien abgeschnitten sind. Ein in Morona-Santiago lebender Freund gehört zu den Shuar und lebt aktuell in der Gemeinschaft seiner Familie. Die Möglichkeit, sich von eigens kultivierten Nahrungsmitteln zu ernähren wird in Anbetracht von potenziellen Versorgungsschwierigkeiten in städtischen Räumen positiv bewertet. Indigenes Wissen wird dabei genutzt, um pflanzenbasierte Medikamente herzustellen und auf lokaler Ebene nachhaltige Lösungen auf die Corona-Pandemie zu finden.
Hannah Freist, Die brasilianische Sicht
Brasilien steht mittlerweile weltweit an zweiter Stelle mit Blick auf die Zahl an Infizierten und Toten. Der Präsident leugnet nach wie vor die fatalen Auswirkungen des Virus Covid19 und steht dabei im konstanten Konflikt mit den Gouverneuren der Bundesstaaten. Inmitten der Hochphase der Pandemie befindet sich Brasilien ohne Gesundheitsminister, da die letzten beiden durch Konflikte mit dem Präsidenten im Verlauf der Pandemie zurückgetreten sind. Zudem wird das Medikament Cloroquina gezielt von der Regierung gefördert und eingesetzt, obwohl zahlreiche Studien vor der flächendeckenden Nutzung gewarnt haben.
Freund*innen aus Brasilien stehen vor vielen Herausforderungen in diesen Zeiten und machen sich große Sorgen um den weiteren Verlauf der Pandemie. Darüber hinaus kommen jedoch noch Gefühle der Wut, Ohnmacht und Desillusionierung dazu, wenn man auf die politischen Spannungen zu sprechen kommt. In den letzten Wochen hat es zahlreiche Rücktritte von Ministern gegeben, die zum Großteil von Militärs ersetzt wurden. 10 von 22 Ministerien werden bereits von Militärs geleitet, darunter das Gesundheitsministerium, in dem kaum noch Minister sitzen, die langjährige Erfahrung im Gesundheitssektor aufweisen können. Zudem hat eine Gruppe von Militärs Drohungen gegen den Obersten Gerichtshof ausgesprochen, welcher derzeit einen Prozess gegen die Familie Bolsonaro führt. Auch Teile der Zivilgesellschaft formieren sich in anti-institutionellen Demonstrationen und fordern die Abschaffung des Obersten Gerichtshofs und die Schließung des Kongresses.
Carlos, ein Freund aus der Stadt Belo Horizonte im Bundesstaat Minas Gerais schildert die Überforderung, die er empfindet hinsichtlich der zahlreichen Skandale der derzeitigen Regierung. Ohne die Möglichkeit zu protestieren fühle man sich diesem Informationsschwall der verschiedenen Medien ausgesetzt, ohne wirklich aktiv werden zu können. Dazu kommt die Herausforderung, die überwältigende Menge an Fake News als solche zu erkennen und darüber hinaus auch kritisch über die offizielle Medienerstattung zu reflektieren, da diese in der Vergangenheit bereits alles andere als Neutralität bewahrt hat.
Eine Freundin aus Sao Paulo betont in diesem Kontext die hohe Relevanz linker Influencer in den sozialen Medien, da diese eine breite Sichtbarkeit für politische Diskurse, Proteste, aber auch Verbrechen des Staates schaffen. Dadurch dass man nicht auf die Straße gehen kann, finde nun der Kampf um das Narrativ im Internet statt. Eine weitere Freundin aus Sao Paulo erzählt von einer zunehmenden Angst vor der Gewalt und Polarisierung der Gesellschaft. Sie ist jedoch auch der Überzeugung, dass die Mobilisierung über soziale Netzwerke und vor allem künstlerische Ausdrucksformen und Projekte die neuen Protestbewegungen der Gesellschaft gegen die derzeitige Regierung prägen werden.
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