Die fünfte und letzte Veranstaltung der Debattenreihe mit diesem Titel des Lateinamerika-Forums Berlin in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung fand am 23.9.2021 wie die vorherigen als Zoomkonferenz statt. Der Moderator Luiz Ramalho skizzierte zu Beginn noch einmal die Gesamtkonzeption und die Intention der fünf Konferenzen, von denen die ersten drei Erfahrungen aus Gewerkschaften verschiedener Länder des Kontinents behandelt hatten, während die letzten beiden soziale Bewegungen vorstellten. Gemeinsam war, dass die Referierenden immer Aktivistinnen und Aktivisten der verschiedenen Organisationen und Bewegungen waren, die ihre praktischen Erfahrungen, Konflikte, Probleme und Erfolge vermittelten. Gerade angesichts der krisenhaften politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen in praktisch allen lateinamerikanischen Ländern, noch verschärft durch die Covid 19-Pandemie, galt und gilt es, diese konkreten Erfahrungen bekannt zu machen und damit auch zu belegen, dass trotz alledem der Kampf um demokratische Freiheit, soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Zukunftssicherung auf der kontinentalen Tagesordnung bleibt und Bürgerinnen und Bürger in allen Ländern innovativ, engagiert und erfolgreich diesen Kampf führen.
Am 23.9. ging es um Erfahrungen aus Kolumbien Brasilien und Chile.
Über Kolumbien informierte José Antequera Guzmán, Anwalt und Politologe und seit vielen Jahren aktiv beteiligt an der konkreten Gestaltung des Friedensprozesses in seinem Land. Er ist Gründungsmitglied und zur Zeit Direktor des Zentrums für Erinnerung, Frieden und Versöhnung (Centro de Memoria, Paz y Reconciliación). 2016 wurde der über 70 Jahre dauernde bewaffnete Konflikt in Kolumbien durch einen sehr komplexen „Friedensvertrag“ (Acuerdo de Paz) formell beendet, aber die praktische Umsetzung und mithin ein tatsächlicher umfassender gesellschaftlicher Frieden bleiben weiterhin eine zentrale politische und soziale Herausforderung, der sich u.a. auch das „Centro“ von Antequera Guzmán widmet.
Der obwohl keineswegs vollkommene und konfliktfreie, aber dennoch vielleicht bedeutsamste Teil-Erfolg des Friedensvertrages, dessen Umsetzung, so Antequera, von 70 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird, liegt im Bereich der (Re)Integration der ehemaligen Guerrillakämpfer in die kolumbianische Gesellschaft. Freilich muss man wissen, dass seit dem Friedensvertrag etwa 300 bis 500 Ex-Guerrilleros ermordet wurden und auch die Friedensvertragskommission ständig attackiert wird, weil sie angeblich vor allem die früheren Guerrillakämpfer zu schützen versuche. Die andauernden Kriegsfolgen und ihre Überwindung und die Gestaltung der prekären kolumbianischen Demokratie sind daher auch nicht voneinander zu trennen. Das gilt vor allem auch wegen der unerfüllten Versprechen aus dem Friedensvertrag. So sind z.B. die zentrale Vereinbarung über eine Landverteilung, aber auch Entschädigungsleistungen an die Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen oder Investitionszusagen für die infrastrukturell benachteiligten ländlichen Regionen nicht erfüllt worden. Eine demokratische Lösung der heftigen sozialen Konflikte ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Folgen der Pandemie provozierten Dauerproteste, die mit brutaler Gewalt niedergeschlagen werden (über 70 blutige Konfrontationen mit vielen Toten), weshalb Kolumbien zur Zeit als eines der repressivsten Länder des Kontinents gilt. In den nächsten Monaten ist eine Zunahme der Gewalt zu befürchten, da die bevorstehenden Wahlen (Parlament März 2022, Präsident Mai 2022) die Konflikte noch erheblich verschärfen werden.
Das Zentrum für Erinnerung, Frieden und Versöhnung versteht sich als aktiver Teil der Zivilgesellschaft, der sich für mehr Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen einsetzt. Das betrifft u.a. die Verteidigung der Menschenrechte, die Förderung der Vertiefung und Verstetigung der Ziele des Friedensprozesses, Erinnerungsarbeit oder auch Hilfe für Familien und Opfer der staatlichen Repression etc. Denn Kampf für den Frieden impliziert den Einsatz für eine Agenda, die die ökonomischen und sozialen Rechte stärkt und weiterentwickelt, denn Versöhnung kann nur gelingen, wenn soziale Gerechtigkeit, Geltung der Menschenrechte, Dialog, und Solidarität für die gesamte Gesellschaft erfahrbare Werte sind.
Margarita Maira aus Chile, mit einem Mastertitel in Literatur und Diplom in Genderstudien und Politik, ist Koordinatorin der Bewegung “Ahora Nos Toca Participar“ (ANTP) („Wir nehmen teil!“), die die aktive Teilhabe der Zivilgesellschaft am Prozess der Formulierung einer neuen chilenischen Verfassung fördert. Bisher gilt die Pinochet-Verfassung, die noch unter der Militärdiktatur erlassen wurde und in den Jahren der demokratisch gewählten Mitte-links Regierungen der Concertación-Parteien-Koalition nur geringfügig modifiziert worden war. Sie war und ist das Symbol für die große Kluft auch in der Post-Diktatur-Zeit zwischen der chilenischen Gesellschaft und der politischen Klasse, die sich in den letzten 20 Jahren immer wieder in heftigen sozialen Konflikten und massiven gewaltsamen Kämpfen artikulierte. Proteste vernachlässigter Regionen, der ländlichen Bevölkerung, der indigenen Gemeinschaften, der städtischen marginalisierten Gruppen, der Gewerkschaften, der Frauen und, besonders lang andauernd, der Jugend (Sekundarschüler) und der Studentenbewegung gegen die Vernachlässigung des zudem extrem teuren Bildungswesens zeigten eine sozial und ökonomisch, aber auch kulturell zerklüftete Gesellschaft, in der zwar Verfahren und Institutionen demokratisch formell nach der Diktatur von den traditionellen politischen Eliten wieder hergestellt worden waren, aber eine demokratische partizipative Gesellschaft nicht entstehen konnte. Margarita Maira unterstrich, dass der fehlende Dialog zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Politik keine Teilhabe der Zivilgesellschaft an den wichtigen Entscheidungen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene erlaubte. Die Proteste und die Kritik an der skandalös ungleichen Eigentumsverteilung, am maroden Gesundheitssystem, den Defiziten in der Bildungspolitik, den Konflikten um das rigoros privatisierte Rentensystem blieben ohne Antworten oder Lösungen. Das thematisierte die Forderung eines völligen Neuanfangs der politischen Ordnung, mithin den Ruf nach einer neuen Verfassung.
Es war die Zivilgesellschaft und es waren Bewegungen, Initiativen, Gruppen, Organisationen eher außerhalb des traditionellen Politikspektrums vor allem der Parteien geographisch in allen Teilen des Landes und sozial aus allen Schichten, die diese Forderung nach einer neuen Verfassung in einem Plebiszit durchsetzen und dabei zugleich Strukturen und Prinzipien bestimmten, die dann in einer Wahl zu einer Verfassungsversammlung führten, für die Geschlechtergleichheit sowie eine feste Quote für die indigenen Gemeinschaften festgelegt worden war.
Die massive Beteiligung sowohl beim Plebiszit als auch dann bei der Wahl zur Verfassungsversammlung belegte den Wunsch nach einer Versammlung, die deutlicher und breiter die chilenische Gesellschaft abbildet als die Institutionen der bisherigen repräsentativen Demokratie (z.B. Senat, Parlament). An der Wahl beteiligten sich viele Listen unabhängiger Gruppen, ein deutlicher Ausdruck des vorherrschenden Misstrauens gegenüber den politischen Parteien. Demokratie bedeutete Teilhabe, und auf diese DNA der zukünftigen Verfassung versuchte die ANTP, vor der Wahl die Kandidaten zur Verfassungsversammlung zu verpflichten. 45 von den Kandidaten, die „Beteiligung“ als Prinzip der neuen Verfassung und ihrer eigenen politischen Praxis versprachen, erreichten auch einen Sitz in der Verfassungsversammlung und sind heute wichtige Kontakte und Referenzpersonen, um den Prozess der Verfassungsdebatte in die Öffentlichkeit zu tragen. Bisher ist die Kampagne der Beteiligung höchst erfolgreich und übertrifft die Hoffnungen der Mitglieder der Gruppen wie die ANTP, die den Verfassungsprozess in vielen und vielfältigen Versammlungen durch öffentliche Diskussionen und Dialoge und konkrete Vorschläge und Forderungen nicht nur begleiten, sondern auch mitzugestalten versuchen. Diese neue Repräsentativität macht aus dem Verfassungsprozess ein politisches Laboratorium, wie es das Land noch nie kannte.
Klar, dass die traditionellen konservativen Eliten, die den Prozess für eine neue Verfassung nicht hatten aufhalten können und bei den Wahlen dann sogar -unter jenen 33 Prozent der Mitglieder in der Versammlung blieben, die ihnen ein Vetorecht gegen die Beschlüsse eingeräumt hätte, mit allen Kräften versuchen, die Arbeit der Versammlung zu blockieren oder zumindest zu diskreditieren. Dazu zählen Versuche, die Finanzierung der Verfassungsversammlung zu behindern oder zu sabotieren – in der Tat eine große Gefahr für den Prozess. Auf Hilfe der konservativen Regierung ist kaum zu rechnen. Und die konzentrierte Macht der politischen Rechten in den print- und elektronischen Medien wird massiv und demagogisch genutzt, um natürlich auch in der Verfassungsversammlung auftretende Konflikte oder Fehler zu skandalisieren und damit das gesamte Projekt einer neuen Verfassung in Frage zu stellen.
Gleichwohl erlebt Chile zur Zeit eine historisch einmalige Chance, die politische Kultur des Landes, seine Verfahren, Institutionen, gesellschaftlichen Werte und Ziele, die in der neuen Verfassung formuliert werden sollen, neu zu bestimmen. Schon jetzt ergeben sich spannende neue Beziehungen und Debatten in und zwischen den politischen Mitte-links-Parteien sowie den Mitgliedern der Verfassungsversammlung. Die Widerstände durch die Konservativen und auch die katholische Kirche sind erheblich, und auch die sachlichen Herausforderungen bei der Formulierung einer neuen Grundordnung sind immens, angesichts der vielfältigen Interessen der ja nicht auf einmal harmonisch zusammenwirkenden Zivilgesellschaft. Die Unterstützung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und das breite Spektrum von NGOs, das Engagement der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sektoren, Altersgruppen, regionaler Organisationen, Frauenbewegungen, Interessenverbände – kurz, die Vielfalt einer aktiven Zivilgesellschaft abzubilden, in neuer Form zu repräsentieren und zu beantworten, – kann nur durch Transparenz und umfassende Beteiligung zu einem Erfolg in einer neuen Magna Charta geführt werden.
Foto Credits: Flickr, Protesta by astro now