100 Tage Regierung Lula da Silva

Einheit und Wiederaufbau ist der Slogan der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, die am 1. Januar 2023 angetreten ist. Was waren in den ersten 100 Tagen die Zeichen und Trends der Regierung, die darauf abzielten, ein geteiltes und zerrissenes Land zu vereinen und wieder aufzubauen? Diese Frage motivierte eine neue Veranstaltung im Zyklus der Berliner Brasiliendialoge.

Chancen und Herausforderungen für ‚Einheit und Wiederaufbau‘ in Brasilien


Einheit und Wiederaufbau ist der Slogan der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, die am 1. Januar 2023 angetreten ist. Was waren in den ersten 100 Tagen die Zeichen und Trends der Regierung, die darauf abzielten, ein geteiltes und zerrissenes Land zu vereinen und wieder aufzubauen? Diese Frage motivierte eine neue Veranstaltung im Zyklus der Berliner Brasiliendialoge.¹ Die (virtuelle) Veranstaltung fand am 18. April statt, moderiert von Stefan Ofteringer (Misereor) und Camila de Abreu (FDCL).

Die Debatte konzentrierte sich auf drei Themen: 1) den Zustand der Demokratie in Brasilien, die zusätzlich bedroht wurde durch die Invasion und Verwüstung der Gebäude der drei Gewalten der Republik in Brasília am 8. Januar, eine Woche nach Lulas Amtseinführung; 2) den Kampf gegen den Hunger, der unter Bolsonaro zurückgekehrt war, nachdem zuvor das Land die UN-Hungerkarte verlassen hatte. Dieser Kampf gegen den Hunger war eines der Versprechen in Lulas Wahlkampagne; 3) die Umwelt und der Schutz des Amazonasgebiets und der dort lebenden traditionellen Völkerⁱ , einer der Hauptschwerpunkte der Zerstörung und Vernachlässigung durch die Bolsonaro-Regierung und ein Thema, das große internationale Aufmerksamkeit erregt.

Die Referentinnen waren: Natália Viana, Journalistin, Mitbegründerin und Geschäftsführerin der Agentur für investigativen Journalismus Agência Pública; Autorin und Co-Autorin mehrerer Bücher und Forscherin über die Nutzung von Desinformation zu politischen Zwecken; Elisabetta Recine, Spezialistin für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit, Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Brasília (UnB) und Präsidentin des Nationalen Rates für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit (CONSEA), von Bolsonaro stillgelegt und von Lula wieder zum Leben erweckt; und Helena Palmquist, Journalistin und Anthropologin, Forscherin zum Völkermord an Indigenen Völkernⁱ an der Bundesuniversität von Pará und Beraterin der Beobachtungsstelle für Menschenrechte isolierter und kürzlich kontaktierter Indigener Völkerⁱ (OPI).

Der Bolsonarismus ist nicht vorbei

Natália Viana begann ihren Vortrag mit einer Analyse des Bolsonarismus als Teil weltweiter rechter, digitaler, populistischer Bewegungen, die es schaffen, den Wunsch der Bevölkerung nach mehr demokratischer Teilhabe mit der Maschinerie von Social-Media-Algorithmen zu verbinden. Bolsonaro regierte durch die Manipulation des digitalen Diskurses über soziale Medien. Natália erläuterte, dass dies ein neues Phänomen in der Politik sei und „die extreme Rechte bleiben wird“, d.h. keine Eintagsfliege ist, da sie zu einer Bewegung geworden ist, der es gelingt, eine kulturelle Vereinheitlichung zu schaffen, die den Menschen, die ihr angehören, einen Sinn gibt.

Es handelt sich dabei um Menschen, die von Bolsonaro-Anhänger:innen zu Unterstützenden eines Staatsstreichs wurden, geschickt geführt von einer Infrastruktur der Desinformation über digitales Marketing, die eine Strategie „trüben Wassers“ anwendet, die darauf abzielt, ein verwirrendes Informationsumfeld zu schaffen. Schlimmer noch: dass sie verstärkt mit öffentlichen Mitteln der Bundesregierung und des Parlaments versorgt wurde.

Diese in den letzten Jahren aufgebaute Infrastruktur wird seit 2018 von der Agência Pública untersucht, überwacht und angeprangert. Die Referentin betonte, dass der Kampf gegen Fehlinformationen neben anderen Herausforderungen auch die Regulierung, Besteuerung und Rechenschaftspflicht sozialer Netzwerke sowie die Bestrafung der Putschisten vom 8. Januar umfasst. Sie ist der Meinung, dass die Regierung diese Probleme zu Recht angegangen ist, aber es gibt eine Tendenz einiger Sektoren, den Bolsonarismus fälschlicherweise als eine Sache der Vergangenheit zu betrachten, und damit in diesem Sinne eine für die brasilianische Gesellschaft typische „Gedächtnisstörung“ reproduziert.


Zerstörte Regierungsstrukturen

Elisabetta Recine und Helena Palmquist zeichneten das dramatische Bild der Schwächung, ja Zerstörung staatlicher Strukturen und die von der jetzigen Regierung vorgefundene Budgetbindung, die viel gravierender ist als bisher angenommen. Ein wichtiger Teil der 100 Tage waren dem noch nicht abgeschlossenen Prozess des Wiederaufbaus von Arbeitseinheiten, Programmen, institutionellen Beziehungen, Inspektionskapazitäten im Amazonas usw. gewidmet.

Beide betonten die Herausforderung der Rückgewinnung von finanziellen Ressourcen für beide Bereiche, was erst mit dem Haushalt 2024 gelöst werden wird.

Elisabetta erinnerte daran, dass der Prozess der Demontage der öffentlichen Politiken – nicht nur der sozialen – mit dem Putsch begann, der die Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 aus dem Amt drängte. Sein Höhepunkt war die katastrophale Verfassungsänderung 95 – die Ausgabenobergrenze – durch die Temer-Regierung, mit der die Erhöhung der öffentlichen Ausgaben auf die Schwankungen der Inflation für einen Zeitraum von 20 Jahren begrenzt wurde. Die Wahl von Bolsonaro im Jahr 2018 hat diesen Prozess verschärft, und die Pandemie hat die Hungersituation und die prekären Bedingungen, unter denen die Bevölkerung bereits lebte, noch verschlimmert.

Wie die drei Referentinnen abschließend feststellten, sind die analysierten Bereiche aus unterschiedlichen Perspektiven miteinander verbunden, darunter auch die vom Bolsonarismus propagierten Fehlinformationen. Es sei daran erinnert, dass die ideologische Grundlage der Liquidierung von Strategien und Strukturen zur Bekämpfung des Hungers, zur Verteidigung der Umwelt und zum Schutz traditioneller Völkerⁱ der anti-wissenschaftliche, anti-Indigene und anti-umweltpolitische Diskurs der bolsonaristischen Regierung war, zu dem die systematische Verbreitung von Fehlinformationen hinzukam.


Der Kampf gegen den Hunger

Zusätzlich zu den erwähnten Problemen fügte Elisabetta Recine die neuen Herausforderungen hinzu, vor denen Brasilien und die Welt stehen, einschließlich des Klimawandels, die viel schwerwiegender und dringender seien als in der Zeit der früheren Lula-Regierungen (2003-2010). Die Diskussion über die Beseitigung des Hungers sowohl in Brasilien als auch in der Welt ist heute verbunden mit einer Transformation der Ernährungssysteme hin zu widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Prozessen, die sich auf die Verringerung von Ungleichheiten konzentrieren und die Themen der Bekämpfung des Hungers und der Umwelt artikulieren.

Zu den bisherigen Maßnahmen der Regierung gehören die Wiederaufnahme des Programms Bolsa Família in einem aktualisierten und erweiterten Modell; ein Lebensmittelbeschaffungsprogramm; und die Ausarbeitung des Mehrjahresplans 2024-2027 ², der den Vorschlag zur Wiederaufnahme eines partizipativen Prozesses mit der Zivilgesellschaft enthalten wird.

CONSEA stellt sich zwei großen Herausforderungen: a) Ausrottung des Hungers durch Gewährleistung einer gesunden Ernährung, d.h. die Überwindung der weitverbreiteten Meinung, dass alle Nahrungsmittel für die arme Bevölkerung geeignet sind; b) Verknüpfung von Sofortmaßnahmen mit mittel- und langfristigen Maßnahmen, die die Wurzeln der Ungleichheiten in Brasilien angreifen. „Denn der Motor der Ungleichheit und des Hungers läuft weiter“.


Der Schutz des Amazonas und der Völkerⁱ , die ihn bewohnen

Helena Palmquist machte auf die Bedeutung von Lulas Besuch im Indigenen Gebiet der Yanomami am 21. Januar aufmerksam und die Enthüllung des Völkermords an dieser Bevölkerung, der wie nach einem Lehrbuch abläuft: ein Angriff auf eine ethnische Gruppe mit dem Ziel der Auslöschung. „Die Regierung war mit einem Völkermord konfrontiert“.

Die 100 Tage zeigten den offensichtlichen politischen Willen der Regierung, der sich in Maßnahmen manifestiert wie dem Kampf gegen den Yanomami-Völkermord, der Schaffung des Ministeriums für Indigene Völkerⁱ unter der Leitung einer anerkannten Indigenen Anführerin, Sônia Guajajara, und der Präsenz Indigener Menschen in der Leitung der Indigenen-Schutzbehörde FUNAI.

Darüber hinaus wird, wie von der Regierung versprochen, eine Reihe von Demarkierungen von Indigenem Land erwartet, ein Thema, das Teil der Herausforderung einer generellen Landbesitzregulierung ist, die den größten Konflikt in der Diskussion über Amazonien darstellt.³

Helena wies mit Sorge auf die Verantwortlichkeiten und die Bestrafung der Verantwortlichen für Verbrechen wie unter anderem den Yanomami-Völkermord und die Ermordung des Indigenisten Bruno Pereira und des Journalisten Dom Phillips im Juni 2022 hin. ⁴ Sie fürchtet den Mangel an kollektiver Erinnerung der brasilianischen Gesellschaft, wie von Natalia bereits unterstrichen.

Die größte Herausforderung für die Lula-Regierung besteht aber darin, den Kampf gegen den Klimawandel, den Schutz Amazoniens und der traditionellen Völker mit einer Entwicklungsperspektive für die Region in Übereinstimmung zu bringen. In diesem Zusammenhang wird die Positionierung der Regierung zu drei kontroversen Themen mit Interesse erwartet: die Lizenzierung der Autobahn Manaus-Porto Velho, die Verlängerung der Lizenzierung des Wasserkraftwerks Belo Monte und die Lizenzierung der Ölexploration an der Mündung des Amazonas.

In Bezug auf die Abholzung im Amazonasgebiet sagte die Forscherin, sie sei sehr zuversichtlich, dass sie unter der Regierung abnehmen werde: „Brasilien weiß, wie man überwacht“.


Die Rolle des Militärs. Internationale Beziehungen.

Natália Viana ist Autorin des Buches „Collateral Damage: the intervention of the military in public security“ (2021). In Anbetracht des aktuellen Kontexts und angesichts der Bedrohungen für die Demokratie, die am 8. Januar besonders deutlich wurden, stellte sie fest, dass Lula einen Demokraten für das Kommando der Armee nominierte, der sich bemüht, bolsonaristische Strömungen in der Armee einzudämmen. Notwendig wäre indessen eine Strukturreform der Armee, an der die Regierung anscheinend kein Interesse hat. Dazu trägt eine immer noch bestehende Vorstellung bei, dass die Armee Hüterin der Demokratie des Landes ist.

In Bezug auf die internationalen Beziehungen hob die Journalistin den Trend zum Multilateralismus in der heutigen Welt hervor und nannte den Krieg Russlands gegen die Ukraine einen Meilenstein in diesem Prozess. Lula versucht sich aus dem Konflikt herauszuhalten und sich nicht automatisch als Verbündeter der USA zu positionieren. Als Nebeneffekt provoziert diese Position jedoch Hindernisse für den brasilianischen Einfluss in der internationalen Debatte bei Themen wie die Regulierung sozialer Netzwerke und die Klimakrise, wo das Land mit Lula allerdings gut verortet ist. Es ist ein komplexes Schachspiel. In Bezug auf China, das Lula kürzlich unter dem kritischen Blick der USA und Europas besuchte, ist zu erinnern, dass Lula in seinen früheren Regierungszeiten mehrmals nach China gereist war, dem wichtigsten Wirtschaftspartner Brasiliens. „Das Problem ist, dass die Welt heute polarisierter ist und die USA China gegenüber kriegerischer auftritt.“

Elisabetta Recine wiederum merkte an, dass der Kampf gegen den Hunger auf der Tagesordnung der Reise Lulas stand und aufgrund des Entwicklungs- und Produktionsmodells des asiatischen Giganten ein Thema sei, das nicht frei von Widersprüchen ist.

Helena Palmquist äußerte sich auch besorgt über mehrere vom Präsidenten besiegelte Vereinbarungen mit China, die dem Amazonasgebiet ernsthafte Probleme bereiten könnten. Es gilt jedoch, die Auswirkungen der Reise auf die künftige Regierungspolitik abzuwarten.


Wie können die positiven Tendenzen der Lula-Regierung gestärkt werden?

Es ist notwendig, den Fehlinformationen entgegenzutreten, die sich durch alle Bereiche ziehen, betonte Natalia. Die Regierung muss verstehen die Bevölkerung in die öffentliche Debatte einzubeziehen. Natalia ist zum Beispiel der Meinung, dass Lula ein regelmäßiges Programm für die Kommunikation mit der Bevölkerung haben sollte.

Elisabetta verteidigte die Partizipation und die soziale Mobilisierung als transversale Achse für alle Politiken. „Entscheidend für die Bewältigung der Widersprüche ist die soziale Teilhabe als wesentliche Voraussetzung für die Gewährleistung der Bürgerrechte.“ Sie betonte auch die Notwendigkeit, die Rolle und die Fähigkeit der öffentlichen Hand zur Mitgestaltung wichtiger nationaler Probleme zu stärken, eine Rolle, die von der Gesellschaft anerkannt werden muss.

Für Helena ist ein Wandel in der Sichtweise auf Amazonien und die Indigenen Völkerⁱ notwendig, ebenso wie ein Wandel in der Entwicklungsperspektive der Region. „Brasilien respektiert traditionell die territorialen Rechte der Indigenen Völker, auch wenn es immer wieder zu Konflikten kam, aber es mangelt an Respektierung der Selbstbestimmung dieser Völker.“

Der Überblick über die ersten 100 Tage der Regierung Lula in den drei analysierten Bereichen, den unsere Gäste boten, bestärkte mich in meinen positiven Erwartungen an die Regierung, mahnte mich aber auch, die Herausforderungen kritisch und wachsam im Auge zu behalten. Wie Elisabetta Recine sagte, „feiern wir alle, die in diesem Land leben, diesen Sieg. Aber er ist nicht ohne Widersprüche. Er war das Ergebnis einer sehr breiten politischen Koalition und wir wissen, dass diese für den Sieg unabdingbar war. Wir leben in Brasilien zwischen Hoffnung und Widerspruch“.

Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch von Werner Würtele
Bericht in Originalsprache: 100 dias do governo Lula von Didice Godinho Delgado

 

 

 

¹ Der Zyklus Berliner Brasiliendialoge ist eine Initiative mehrerer Organisationen, die sich seit 2020 mit der brasilianischen Realität auseinandersetzen. Die Aktivität 100 Tage Regierung Lula: Chancen und Herausforderungen für „Einheit und Wiederaufbau“ in Brasilienwurde gefördert von: Lateinamerika-Forum Berlin e.V. (LAF), Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), Misereor, Brot für die Welt, KoBra, Brasilien-Berlin-Initiative und die politischen Stiftungen Friedrich Ebert (FES), Heinrich Böll und Rosa Luxemburg. Die Aktivität kann ebenso bei Facebook abgerufen werden.

² Der Mehrjahresplan (PPA) ist das zentrale wirtschaftspolitische Planungsinstrument der Bundesregierung.

³ Es wird auch erwartet, dass in dem neuen Szenario diesbezügliche Beschlüsse des Bundesgerichtshofs in die Praxis umgesetzt werden und dass das Gremium den vorgeschlagenen Zeitrahmen für die Abgrenzung und den Besitz von Gebieten, die als traditionell Indigen gelten, ablehnen wird. Die These des zeitlichen Rahmens stellt fest, dass Indigene Bevölkerungsgruppen nur Land beanspruchen können, das sie am Datum des Inkrafttretens der Bundesverfassung (5.10.1988) besessen haben.

⁴ Der brasilianische Indigenist und der englische Journalist wurden im Javari-Tal, dem zweitgrößten Indigenen Land Brasiliens, im äußersten Westen des Amazonasgebiets, ermordet.

Wörtliche Übersetzung von Povos – ‚Völker’aus dem Portugiesischen ins Deutsche.

Foto: Ricardo Stuckert