Wahlergebnisse – Spiegel der peruanischen Gesellschaft

11.11.2020 EILMELDUNG: PRÄSIDENT VIZCARRA VON PARLAMENT ABGESETZ Wahlergebnisse spiegeln Zerrissenheit der peruanischen Gesellschaft wider   Es war schon eine außergewöhnliche Wahl. Verfassungskonform hatte Präsident Vizcarra das Parlament aufgelöst, nachdem dieses mit seiner Obstruktionspolitik das Regierungshandeln lange Zeit paralysiert hatte, mitunter auch um die eigenen Reihen vor strafrechtlicher Verfolgung wegen Korruption zu schützen. Die Wahl erfolgte […]

11.11.2020 EILMELDUNG: PRÄSIDENT VIZCARRA VON PARLAMENT ABGESETZ
Wahlergebnisse spiegeln Zerrissenheit der peruanischen Gesellschaft wider

 

Es war schon eine außergewöhnliche Wahl. Verfassungskonform hatte Präsident Vizcarra das Parlament aufgelöst, nachdem dieses mit seiner Obstruktionspolitik das Regierungshandeln lange Zeit paralysiert hatte, mitunter auch um die eigenen Reihen vor strafrechtlicher Verfolgung wegen Korruption zu schützen. Die Wahl erfolgte nicht gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl wie üblich. Das Mandat der gewählten Parlamentarier:innen währt so nur bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2021 und wieder kandidieren können sie nach bestehendem Wahlgesetz nicht unmittelbar.
An Peru kann beispielhaft für viele lateinamerikanische Länder die Politikverdrossenheit und Ablehnung „der da oben“ (que se vayan todos) aufgezeigt werden.  Selten gab es so viele Enthaltungen und ungültige Stimmen wie bei dieser Parlamentswahl in Peru, trotz Wahlpflicht. Von 25 Mio. Wahlberechtigten gingen trotz Strafandrohung nur 18 Mio. an die Urne, wovon 19% ungültige Zettel abgaben (voto nulo y blanco). Noch eine Besonderheit bei dieser Wahl war die fehlende Information über die 21 Parteien und ihre Kandidat:innen, die zur Wahl standen. Eine konfuse Wahl.

Vor dem Hintergrund der Korruptionsskandale verloren am 26.1.2020 gerade die Parteien am meisten, die seither das Parlament beherrscht hatten: die Fujimori-Partei, die auf Platz 7 absackte und die Traditionspartei APRA, die noch nicht einmal die 5% Hürde schaffte. Im neuen Parlament werden 9 Parteien vertreten sein. Die mit den meisten Stimmen, Acción Popular, erreichte gerade 10,1%. der Stimmen.

Wenn es etwas Positives bei diesen Wahlen gab, so der Absturz der Fujimori-Partei. Doch ein „linkes Parlament“ ist dies bei Weitem nicht. Nur eine linke Partei, die Frente Amplio, schaffte es über die 5%, während viele im Parlament vertretene Parteien rechte Ausrichtungen pflegen. Vor der Wahl kam es zu einer größeren Austrittswelle bei der linken Partei Movimiento Nuevo Peru aufgrund von Differenzen über ein angestrebtes umstrittenes Wahlbündnis.
Die Ablehnung des parlamentarischen Systems durch die Bevölkerung öffnet Outsidern und rechtsradikalen Stimmfängern Tür und Tor. Deren Themen sind „Peru zuerst“, Grenzen schließen gegenüber „gefährlichen Ausländer:innen und Abschiebung“(hier: venezolanos); Wiedereinführung der Todesstrafe und Verfolgung von Minderheiten. Sollte sich 2021 ein:e populistische:r Kandidat:in wie Bolsonaro oder Trump präsentieren, so hätte diese:r reale Chancen, war die Überzeugung der Podiumsteilnehmer:innen. Indikator dafür sei, dass sich bei einer Umfrage jüngst 95% der Peruanas/os für eine autoritäre Erziehung ausgesprochen hätten …

Dass eine Partei wie die Frente Agricola Popular (FREPAP) am zweitmeisten Stimmen holte, ist auch ein Ausdruck des Wählerunmuts. Die alttestamentarisch plus Inca-Kulte orientierte Sekte konnte nun auch in Pueblos Jovenes Limas Fuß fassen. Doch auch bei ihr hat der Prozess der Zersplitterung bereits begonnen.
Das Parlament spiegelt die peruanische Gesellschaft wider: So heterogen wie die Gesellschaft und zersplittert das Parteiensystem, so fragmentiert ist auch das neue Parlament. Politisch relevant sind weniger die Parteien als regionale Klientel- und Interessengruppen wie Drogenmafia, Bergbauunternehmer:innen, Goldsucher:innen, Fischer:innen, Erdölförderer, Plantagenbesitzer:innen 70% der Erwerbstätigen sind im informellen Sektor beschäftigt.

Peru ist wie andere Länder Lateinamerikas auch ein rohstoffexportierendes Land. Der vorherrschende Extraktivismus lebt von billigen Arbeitskräften in prekären Arbeitsverhältnissen. Es gibt keine nennenswerten Organisationen der Arbeiter:innen oder landwirtschaftlich Beschäftigten (mehr). Ursachen dafür finden sich in den letzten 50 Jahren: in Militärregierungen, Sendero Luminoso und Fujimori.

Präsident Vizcarra genießt in der Bevölkerung Sympathien. Der Präsidentialismus macht es möglich: im Parlament verfügt er über keine eigene Partei, d.h. er muss sich für seine Gesetze die Stimmen zusammensuchen. In anderen Ländern geschieht dies über Stimmenkauf, in Peru aber hat er der Korruption den Kampf angesagt, die die gesamte Gesellschaft durchdrungen hat. Wir sind gespannt, wie er mit dem neuen Parlament regieren wird.
Vizcarra hätte 2021 Chancen auf Wahl zum Präsidenten, hat aber bereits mitgeteilt, nicht zu kandidieren. Präsidentschaftskandidat:innen mit Erfolgsaussichten sind zeichnen sich derzeit nicht ab.
Kritiker:innen des Präsidenten erkennen immer wieder einen Widerspruch zwischen Ankündigungen und Handeln. Klar ist allerdings, dass er wirtschaftspolitisch für die Fortsetzung einer neoliberalen Strategie steht, auch wenn er seine Position vorsichtiger formuliert.  Die Konflikte um die extraktivistische Wirtschaftspolitik, um Erdöl, Palmöl und Bergbauvorhaben werden unverändert anhalten.

Diskussion: An die Podiumsdiskussion schloss sich eine rege Debatte mit dem Publikum an. Themen waren dabei unter anderem: Welche Rolle spielen die Medien im politischen Prozess? Wie lässt sich das politische System stabilisieren und die Demokratie bewahren? Kann die geplante Justiz- und Wahlrechtsreform das Land aus der Krise führen? Wird sich die Korruption eindämmen lassen? Und welche Chancen liegen in außerparlamentarischen Bewegungen, wenn die Bevölkerung der politischen Ebene grundlegend misstraut.

Auch wenn seine stärksten Kontrahenten im Parlament durch die Wahl enorm geschwächt wurden, bleibt die Frage, ob der Präsident wirklich gestärkt aus dieser hervorgegangen ist. Bei den Antworten zur Zukunft des politischen Systems des Landes überwog der Pessimismus. Die Zivilgesellschaft Perus indessen ist traditionell politisiert und kämpferisch, und gelegentlich auch erfolgreich, wenn es um die Durchsetzung konkreter Anliegen geht.Wer weiß, was die Wahlen 2021 bringen werden.

Beitrag von Denise Klüber und Werner Würtele 

zur Kooperationsveranstaltung der Infostelle Peru und dem Lateinamerika-Forum Berlin e.V. am 6.2.2020, „Parlamentswahlen in Peru – Weichenstellung für einen Neuanfang?“ Mit César Bazán Seminario und Andreas Baumgart. Moderation: Mechthild Ebeling.

Foto Credits Beitragsbild: Unsplash, Glen Carrie