Neuer Brief von Schwester Karoline zur aktuellen Situation in Chile
„Unsere lieben Freunde,
mit bangem Herzen hoffen wir, dass uns zusammen mit unserem Volk der Aufbruch in eine gerechtere und geschwisterliche Zukunft gelingt. Daniela Steiner (auf Besuch aus der Schweiz) und unsere Mitarbeitern in der Öffentlichkeitsarbeit, Annekathrin Erk, hatten die Idee ein Gespräch mit mir zu führen und es aufzuzeichnen.
Es geht um die Hintergründe, die Geschehnisse und einen Ausblick zur sozialen Krise, die wir gerade erleben.
Am 22.10.2019 hatte uns bereits dieser Brief von Schwester Karoline erreicht:
Liebes Lateinamerika-Forum Berlin e.V.,
Als ich am vergangenen Freitag aus Bolivien ankam, konnte ich fast nicht glauben, was in wenigen Stunden zuvor in Chile passiert war: ein Aufstand des Volkes!
Ich hatte zugesagt, am selben Nachmittag an der Eröffnung eines Rehazentrums für drogenabhängige Kinder und Jugendliche im Süden der Stadt teilzunehmen, bekam aber stundenlang keinen Bus und kein Taxi, wie viele Tausende von Menschen mit mir auf der Strasse, die um diese Zeit nach Hause wollten. Es war unmöglich und ich musste umkehren, während es Nacht wurde… Die Nachrichten überschlugen sich. Bei all dem staunte ich, dass die Leute nicht über die Unruhestifter schimpften, die den Bus- und U-Bahnverkehr abgeschnitten haben. Plötzlich überkam mich das Gefühl, dass sie zustimmten, da nur so Chile und die Politiker aufwachen würden.
Diese Situation ist für uns eine Herausforderung, dass für Millionen Chilenen ein Stückchen Reich Gottes Wirklichkeit werde durch mehr soziale Gerechtigkeit.
Wir bleiben verbunden in Gottes Liebe
Karoline
Santiago de Chile, 22.10.2019
Jesu Auftrag an uns:
„den Armen Frohe Botschaft verkünden,
Kranke heilen, Unterdrückte befreien…“
Unsere lieben Freundinnen und Freunde:
In den vergangenen Monate hatte ich oft das Gefühl, dass unsere chilenische Gesellschaft sich wie in einer Ruhe vor einem schrecklichen Sturm befindet und ich meinte, dass dieser spätestens in fünf Jahren ausbrechen würde, wenn die Zahl der RentnerInnen (heute eine Million), die mit einer Rente von Euro 120,- nach einem Arbeitsleben von 35 bis 40 Jahren auf 2 Millionen Chilenen gestiegen ist,
während- wie jetzt – ein Bus in die Stadt hin und zurück 2,- und ein Kilo Brot 1,50 Euro kostet. Nun ist der Sturm letzten Freitag ausgebrochen mit einem Ausmaß, das sich keiner vorstellen konnte.
Da geht es nicht mehr um die Erhöhung des Preises der U-Bahn, da geht es um ein Wirtschaftssystem, den reinen neoliberalen Wirtschaftskapitalismus, der anfangs der Militärdiktatur installiert und immer mehr perfektioniert wurde, bis der Staat alle sozialen und wirtschaftlichen Funktionen den
Kapitalträgern, Unternehmern und neoliberalen Wirtschaftsexperten überließ, die auf diesem Gebiet das Schicksal der Institutionen und der Bevölkerung bestimmten.
So hat die Diktatur Pinochets sämtliche strategischen landeseigenen Industrien: unter anderen Gas, Wasser, Elektrizität an Privatunternehmen verkauft. Das ganze Grund- und Oberschulwesen wurde privatisiert. Konfliktive Schulen in Armenviertel, die Private nicht übernommen wollten, mussten von den entsprechendenGemeinden (mit von der Diktatur eingesetzten Bürgermeistern) übernommen werden. Die Rentenversicherungen wurden privatisiert. Die chilenische Textil- und Schuhindustrie konnte dem zollfreien Import nicht widerstehen. Ausländische Konzerne wurden eingeladen, in den chilenischen Bergbau zu investieren mit einem Gesetz, dass sie keine Steuern, sondern nur eine Pauschale zahlen müssen. Bis vor 2 Jahren gab es kaum Stipendien für Berufsbildung oder Universitätsstudium, heute noch immer schwer beschränkt. Der monatliche Mindestlohn wurde zunächst für 48- Stunden-, jetzt 45- Stundenwoche (und mit Erhöhung) auf Euro 300.- festgesetzt. Soziale Ungerechtigkeit wurde fest verankert, während sich das Angebot einer Konsumgesellschaft breit machte und ein großer Teil der
Bevölkerung sich schwer verschuldet hat.Hier teile ich nun einen Artikel von der Landesvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile, der bei IPG Internationale Politik und Gesellschaft „Der Geist Pinochets“ erschienen ist und der die Lage meiner Meinung nach geschildert: „Viele Chilenen haben die neoliberale Politik ihrer Regierung satt. Die rechte Regierung setzt auf die brutale Unterdrückung durch das Militär. Von Simone Reperger | 22.10.2019
Am Sonntag war ich zusammen mit Vertretern der „Comunidad de Organizaciones Solidarias“ (300 Organisationen im Dienst an den Armen) im Staatsgebäude La Moneda zu einem Gespräch mit der Ersten Dame, Cecilia Morél, und mit dem Staatspräsidenten eingeladen. Frau Morél hat uns aufmerksam zugehört, der Präsident jedoch äußerte nur seine Sorge um die Kriminellen und Quertreiber, sowie um eine Verschwörung von Aktivisten, die die Lebensmittelversorgung unterbinden wolle. Wenige Stunden später erklärte er in seiner Rede an das Land, dass Chile sich in einem Kriegszustand befindet. Das werden ihm die meisten Bürger des Landes nicht verzeihen.
Wir Mitarbeiter von Cristo Vive arbeiten in unseren verschiedenen Diensten mit Einsatz aller Kräfte, um den Menschen beizustehen, die uns brauchen. So kommt einer unserer Ärzte mit dem Fahrrad zum Dienst, wenn es keinen Bus gibt. Auch werden wir nicht am Generalstreik teilnehmen, da wir die Kranken, die arbeitenden Mütter mit ihren Kindern, sowie die Obdachlosen nicht auf der Strecke lassen können. Aber wir werden ihn moralisch und spirituell unterstützen.
Unsere lieben Freunde, wir wissen, dass ihr hinter uns steht und danken euch.
Von Herzen umarmt euchEure Karoline
Foto Credits: Unsplash, Joanna Kosinka