Am 2.11.2017 im LAF Berlin: „Wie Venezuela verstehen?“
Als hätten wir nicht über dasselbe Land gesprochen. Auf dem Podium saßen- neben dem Kuba-Kenner und Zukunftsforscher Dr. Edgar Göll – die drei Lateinamerika-Experten Prof. Dr. Nikolas Werz, Prof. Dr. Günther Maihold, Prof. Dr. Klaus Bodemer, die die externen Faktoren der gegenwärtigen Krise in Venezuela zwar nicht klein redeten, die Krise aber auch als hausgemacht betrachten. Im Publikum waren mehrere Verteidiger der Regierung Maduro präsent. Sie erläuterten, warum sie die Schuld für die kritische Situation alleine dem US-Imperialismus, seinen Verbündeten und der internen Opposition zuschreiben.
Ursachenforschung. Sicher erklärt der gefallene Ölpreis einiges, doch nicht, warum in Zeiten des Booms nicht mehr für die Diversifizierung der Wirtschaft getan wurde, unterstrichen die Lateinamerika-Experten. Venezuela war und ist auch unter Chavez ein vom Erdöl abhängiger Rentenstaat geblieben. Die sprudelnden Erdöleinnahmen provozierten die sog. Holländische Krankheit, es wurde importiert, anstatt die einheimische Wirtschaftssektoren zu entwickeln. Die Erwartungen der venezolanischen Bevölkerung richten sich (und nicht nur dort) traditionell auf den Staat. 95% der Deviseneinnahmen des Landes sollen momentan aus Erdölverkäufen, stammen, eine extreme Abhängigkeit.
Warum wird heute erheblich weniger Erdöl als noch vor ein paar Jahren gefördert (wobei die USA unverändert einen Großteil seines Erdöls weiter aus Venezuela bezieht)? Hat das nicht auch mit fehlenden Modernisierungsinvestitionen, Missmanagement und mangelhafter Instandhaltung zu tun? Venezuela ist das Land der Welt mit den größten Erdölreserven.
Staatstochter Citgo soll Trumps Amtseinführung mit US$ 500.00 gesponsert haben. Trump aber in seiner außenpolitischen Klugheit drohte Venezuela im August mit militärischer Intervention, was die sonst in Sachen Venezuela uneinigen lateinamerikanischen Regierungen zur Abwehr zusammenschloss. Für Maduro eine Steilvorlage. Die USA verhängten Sanktionen gegen Venezuela, diese jedoch so Günther Maihold, hätten damit zu tun, dass Venezuela nicht mit den USA bei der Drogenbekämpfung kooperiere. Über Venezuela würden große Drogendeals abgeschlossen und daran seien auch Regierungsvertreter beteiligt.
Kein Konsens war an dem Abend hinsichtlich der ökonomischen Analyse feststellbar, weniger noch bei der politischen. Hier Teile des Publikums, die in der Maduro-Regierung eine Versammlung edelster Demokraten erkennt, dort diejenigen, die das Land auf dem Weg in die Diktatur mit Aufhebung der Gewaltenteilung sehen, obwohl dies an dem Abend so deutlich nicht gesagt wurde. Die alte Elite möchte wieder zurück an die Pfründe des Staates, die neue wehrt dies ab. Kriminelle Elemente und Krisengewinnler scheint es auf beiden Seiten zu geben.
Klaus Bodemer beleuchtete die Akteurslandschaft. Weder bei der Regierung, noch bei der Opposition erkennt er viel Kohärenz. Inzwischen hätten sich viele Parallelstrukturen entwickelt. Fraktionierung sieht er als Chance zur Konfliktüberwindung.
Eine Schlüsselrolle nehmen die Militärs in Politik und Wirtschaft ein. Gab es 1993 50 Generäle, sollen es je nach Quelle heute 2.000 ja sogar 4.000 sein, die alle wichtigen Staatsämter besetzen.
Die Verfassungswirklichkeit hätte sich inzwischen stark von der vorbildlichen Verfassung von 1999 entfernt. Vieles gäbe es nur noch auf dem Papier, trotz aller Bemühungen der Regierung Maduro um ein demokratisches Image.
Parteien haben in vielen lateinamerikanischen Ländern massiv an Bedeutung verloren, ja, sind sogar von der Landkarte z. T. ganz verschwunden. „Die da oben sind alle korrupt“, die Ablehnung der politischen Klasse war nie so groß wie derzeit (besonders ausgeprägt beim südlichen Nachbarn Brasilien). Interessant ist nun die Entwicklung in Venezuela, wo Nikolaus Werz das Wiedererwachen von Totgesagten erkennt: die sozialdemokratische Accíon Democrática (AD) erzielte bei den neulichen Regionalwahlen plötzlich wieder Erfolge.
Edgar Göll schaute auf die Beziehungen Kubas zu Venezuela. Er hob dabei die positiven Aspekte auf den Gebieten Gesundheit und Erziehung hervor. Zweifellos sei der Einfluss Kubas auf den venezolanischen Sicherheitssektor stark. Der Aufbau des Sozialismus, so Göll, brauche seine Zeit. Beifall aus dem Publikum als die lange Bauzeit des Flughafens BER erwähnt wird. Göll kritisiert die Einseitigkeit in der deutschen Berichterstattung sowohl über Kuba als auch Venezuela.
Dramatisch schilderte eine venezolanische Teilnehmerin die aktuelle Lage, grassierenden Hunger, Medikamentenmangel. Ihre Familie müsse inzwischen Medikamente von Verwandten aus Ekuador beziehen. Am nächsten Tag würde sie nach Venezuela zurückfliegen, die Koffer voll mit Reis und Nudeln. Podiumsteilnehmer Günther Maihold sprach von einer humanitären Katastrophe, die es zu allererst zu bekämpfen gälte. 80% der Lebensmittel mussten schon früher importiert werden, kein Problem, solange Devisen vorhanden waren. Doch heute? Venezuela – ein Land so reich, ein Land so arm.
Nichts ist mehr da zum Verteilen, es herrscht eine galoppierende Inflation, Arbeitslosigkeit, Versorgungskrise. Der Staatshaushalt ist leer. Malaria breitet sich aus. Venezuela will Medikamente von Kolumbien kaufen, was die dortige Regierung aber verhindert, twittert america21. Über eine Million der 31 Millionen Venezolaner/innen – überwiegend die gut Ausgebildeten – sollen bereits das Land verlassen haben. Armut und Unterernährung sind wieder auf dem Stand vor der Chavez-Zeit angekommen. Nikolaus Werz schildert Caracas am Abend als tote Stadt, wobei auch die stark gestiegene Kriminalität ein Rolle spielt. Nur in Honduras und El Salvador ist die Mordrate noch höher.
Szenarien zur Konfliktlösung. Wer könnte bei dieser verfahrenen Situation jetzt noch vermitteln? Der Papst hatte es versucht, in der Dominikanischen Republik trafen sich jüngst die Länder Chile, Mexiko, Bolivien und Nicaragua, doch die Opposition boykottierte die Verhandlungen. Könnte die Bundesregierung etwas tun? Eine Vermittlungsfunktion sieht Maihold bei der Bundesregierung nicht. Die deutschen Wirtschaftsinteressen halten sich in Grenzen.
Bei allem Dissens, etwas Konsens gab es dann doch: man war sich weitgehend einig, dass die Chavez-Zeit einiges an sozialen Errungenschaften gebracht hat, die es nun zu verteidigen gälte. Doch wie? Ein ganz großes Übel liegt in der Kapitalflucht. Wer über etwas Einkommen verfügt, bringt dies so schnell wie möglich ins Ausland. Investiert wird im Land so gut wie nichts mehr.
Die Veranstaltung sollte einen Beitrag zum besseren Verständnis Venezuelas leisten. Fraglich, ob dieses Ziel bei allen erreicht wurde. Ich hatte eher den Eindruck, der venezolanische Konflikt wurde in der Bismarckstr. 101 stellenweise nachgespielt. „Wenn wir es schon nicht schaffen, uns differenziert und lösungsorientiert hier in Berlin dem Land zuzuwenden, wie viel schwieriger ist es dann in Venezuela selbst“, meinte Günther Maihold.
Zum Dialog gehören immer zwei, Gesprächsbereite und Zuhörende auf beiden Seiten. Noch haben aber
die Hardliner die Oberhand. Die Opposition zerlegt sich gerade und wenn dasselbe auf Regierungsseite geschähe, gäbe das dann doch noch Anlass zur Hoffnung?
Manchmal ist das mit der internationalen Solidarität übrigens schon recht schwer.
Der Abend war eine Lehrstunde in politischer Bildung. Dafür ist allen Beteiligten zu danken.
Werner Würtele
Fotos: ©Bernd Schulze
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