Interview zu den Wahlen in Brasilien

Interview mit unserem Mitglied Luiz Ramalho im Tagesspiegel vom 03.11.2022 Sonntag war ein Schicksalstag: Luiz Ramalho, 70, verfolgte die Wahlen in Brasilien vor dem Fernseher. Seit 1986 lebt der gebürtige Brasilianer in Steglitz. Der Soziologe und Ökonom war mehr als 40 Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit beschäftigt: Für den Deutschen Entwicklungsdienst und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit half er in Westafrika, Brasilien, […]

Interview mit unserem Mitglied Luiz Ramalho im Tagesspiegel vom 03.11.2022


Sonntag war ein Schicksalstag:
Luiz Ramalho, 70, verfolgte die Wahlen in Brasilien vor dem Fernseher. Seit 1986 lebt der gebürtige Brasilianer in Steglitz. Der Soziologe und Ökonom war mehr als 40 Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit beschäftigt: Für den Deutschen Entwicklungsdienst und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit half er in Westafrika, Brasilien, in Papua Neuguinea und in Mexiko. Er ist Mitglied im Lateinamerika-Forum, in der Brasilien-Initiative Berlin und im Vorstand des Weltfriedensdienstes. Dass der Bolsonarismo so schnell nicht verschwinden wird und welche Hoffnungen auf dem Wahlgewinner liegen, erläutert er im Interview.

Herr Ramalho, am Sonntag hat Lula da Silva die Präsidentschaftswahlen in Brasilien äußerst knapp gewonnen. Haben Sie gezittert und gebangt?
Ich war tatsächlich sehr nervös. Denn dieser Wahl war für mich persönlich sehr wichtig. Herr Bolsonaro ist ein offener Anhänger der Militärdiktatur, die bis 1985 an der Macht war. Er befürwortet den Einsatz von Folter und holte 6000 Militärs in Regierungsämter. Ich wurde als junger Mensch just von diesem Militärregime vertrieben, viele Freunde wurden verfolgt. Aus diesem Grunde kam ich nach Deutschland. Es war für mich also eine Schicksalswahl.

Wichtige Akteure in Brasilien haben den Wahlausgang anerkannt. Wie stark ist der amtierende Präsident Jair Bolsonaro noch?
Noch hat Bolsonaro für zwei Monate das Mandat, Lula übernimmt erst ab dem 1. Januar 2023. Bis dahin kann er leider sein Zerstörungswerk fortsetzen. Aber eines ist klar: Der rechtsextreme Bolsonarismo wird – wie bei Trump in den USA – bleiben, mit oder ohne Bolsonaro.

Werden die Monate bis zur Machtübergabe im Januar 2023 friedlich verlaufen?
Das ist noch gar nicht ausgemacht. Bolsonaro hat am Dienstag zwar angekündigt, die Verfassung respektieren zu wollen. Er hat aber Lula noch nicht zum Wahlsieg gratuliert. Bolsonaros Anhänger blockieren zurzeit mehr als 200 Straßen in 20 Bundesstaaten. Sie verlangen eine Militärintervention und warten auf ein Kommando von Bolsonaro. Die nächsten Tage bleiben spannend.

Die Wahl wurde von der New York Times als „planetarisch“ bezeichnet. Warum?
Die Erhaltung des Amazonaswaldes ist zentral, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Und in der Regierungszeit Bolsonaros erhöhte sich die Waldzerstörung exponentiell. Gar nicht auszudenken, was es für das Weltklima bedeutet, wenn die Zerstörung weiterginge. Zudem hatten die indigenen Völker unter dem Druck von Goldgräbern und Großgrundbesitzern zu leiden.

Die Lobby für die wirtschaftliche Nutzung des Regenwaldes bleibt auch nach der Wahl stark. Was muss getan werden, um den Amazonas zu schützen?
Zum Beispiel müssen die Umweltschutzeinrichtungen, die unter Bolsonaro abgebaut wurden, wiederhergestellt werden. Aber auch die deutsche und internationale Zusammenarbeit können einen Beitrag zur Erhaltung des Amazonas leisten. Wie
wäre es, wenn in Europa keine Waren konsumiert werden, die aus entwaldeten
Gebieten kommen?

Der Wahlgewinner und Alt-Präsident Lula ist umstritten: Zu seiner früheren Amtszeit gehörten Korruption und Vetternwirtschaft, er saß dafür einige Jahre im Gefängnis. Ist er dennoch ein Hoffnungsträger?
Das Oberste Gericht Brasiliens hat ihn am Ende wegen Befangenheit eines Richters freigesprochen, er saß also über 500 Tage unrechtmäßig im Knast und durfte deswegen 2018 nicht gegen Bolsonaro antreten. Was stimmt: Mehrere Korruptionsskandale wurden zu seiner Regierungszeit aufgedeckt, in seiner Partei und bei seinen Verbündeten. Er bleibt aber ein Hoffnungsträger, weil in seiner Regierungszeit fast 50 Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelklasse aufgestiegen sind, jährlich über eine Million junge Menschen aus den armen Schichten mit Stipendien studieren konnten und vieles mehr. Die Liste der Errungenschaften ist lang. Ihm kommt auch zugute, dass er versöhnen kann und als ehemaliger Gewerkschafter viel Verhandlungserfahrung mitbringt. Und genau das braucht Brasilien im Augenblick.

Sie schreiben derzeit aus zivilgesellschaftlicher Sicht an einem Programm für die Erneuerung der deutsch-brasilianischen Beziehungen mit. Was sind die Themen?
Das wichtigste Thema ist ein deutlicher Beitrag zur Rettung des Amazonas. Hinzu kommen Aspekte wie die Stärkung der Menschenrechte und die Wiederaufnahme der Einrichtung der Schutzzonen für die indigenen Völker. Auch die Frage, wie Brasilien eine Rolle bei der deutschen Energiewende spielen kann, etwa bei der Produktion von Grünem Wasserstoff, wird behandelt.

Ganz konkret: Was sollte Deutschland zukünftig tun?
Den Amazonas-Fonds, der mit Norwegen zusammen aufgelegt ist, sofort aktivieren; der Fonds war in der Bolsonaro-Zeit auf Eis gelegt worden. Außerdem sollte Brasilien wieder in internationale Initiativen einbezogen werden. Bundeskanzler Scholz kennt Lula gut und ich glaube, dass der Dialog über gemeinsame Initiativen schnell und reibungslos sein wird.

Und andersherum: Wozu sollte sich Brasilien verpflichten?
Die Hauptverpflichtung, den Wald zu schützen, liegt natürlich bei Brasilien selbst.Gerade im Klimabereich kann und muss Brasilien viel machen. Interessanterweise hat die ägyptische Regierung am Dienstag Lula zur Teilnahme an den in der
kommenden Woche startenden Klimaverhandlungen eingeladen, obwohl er noch gar nicht im Amt ist!

Noch eine persönliche Frage: Wie kam es zu Ihrem Exil in Berlin?
Ich war in den 1970er Jahren asylsuchend nach Deutschland gekommen. Sehr bald zog es mich nach Berlin, wo ich bereits 1977 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin erhielt. Nach Steglitz kam ich später: Ich zog zusammen mit meiner Frau in die Holsteinische Straße, unsere Kinder sind also echte Berliner!

Wenn Sie aus erster Hand mehr über die aktuelle Situation in Brasilien erfahren möchten: Am Dienstag, 8. November, lädt das
Lateinamerika-Forum zur virtuellen Podiumsdiskussion „Brasilien am Scheideweg“ ein. Alle Referierenden – eine frisch gewählte Abgeordnete, zwei Sozialwissenschaftlerinnen und ein Journalist – stammen aus Brasilien, es wird simultan ins Deutsche übersetzt. Die Veranstaltung ist kostenfrei. Hier geht es zur Anmeldung: https://lateinamerikaforum-berlin.de/veranstaltungen/brasilien-am-scheideweg/

Foto: privat

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge
unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de