Die Massenproteste kamen wie aus heiterem Himmel. Nicht wenigen galten die ChilenInnen als individualistisch, apathisch, dem Konsumterror verfallen. Die solches vertraten, übersahen allerdings, dass es in den letzten 15 Jahren immer wieder große Demos von SchülerInnen (pinguinos), Studierenden und FeministInnen gegeben hatte. Was aber an den aktuellen Protesten überrascht, sind Dimension und Reichweite – und die grundsätzliche Infragestellung des von Apologeten des freien Marktes so hochgelobten chilenischen Wirtschaftsmodells.
Der Referent des Abends und frühere Wirtschaftsattaché an der chilenischen Botschaft, Hugo Calderon, führte aus:
Wir erleben derzeit in Chile eine soziale und politische Krise. Seit dem 18.10.2019 gingen rund 4,2 Mio. Menschen im ganzen Land auf die Straßen, eine unvorstellbar hohe Zahl bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 17,5 Mio. Die Motive waren verschieden, die Ablehnung der teuren und schlechten öffentlichen Dienstleistungen aber sticht hervor. Den Präsidenten machte man persönlich dafür verantwortlich. Entsprechend lautete die Hauptforderung: „Piñera muss weg!“
Waren (geringfügige aber wiederholte) Transportpreiserhöhungen auslösend für die Demonstrationen, so ging es bald um´s „Eingemachte“. In den Privatisierungen erkannte man das Übel: Wasser privatisiert, Bergbau, Schulen, Unis, Gesundheitssystem weitgehend privat. Dazu die wachsende Verschuldung der Privathaushalte. Den ProtestiererInnen ging es bald nicht mehr nur um die Ablösung des Präsidenten, sondern um die Systemfrage, um die Überwindung des neoliberalen Wirtschaftsmodells und dazu die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Die bestehende ist aus Pinochets Zeiten und wurde seit 1990 nur in Nuancen verändert.
Angeheizt wurden die Proteste durch Reden und Handeln des Präsidenten. Er und seine Entourage zeichneten sich besonders zu Beginn der Proteste durch Ahnungslosigkeit und Fehleinschätzungen aus. Piñera lebe in einer anderen Welt, habe keine Ahnung vom Leben des “gemeinen“ Volkes, so Calderon.
Der Präsident verhängte den Ausnahmezustand, mobilisierte Polizei und Militär, rechtfertigte die brutale Polizeigewalt (28 Tote, mehr als 200 junge Menschen, die ihr Augenlicht ganz bzw. teilweise verloren, Tausende Verletzte und Verhaftete), versprach diesen Straffreiheit. Er kriminalisierte die gesamte Bewegung, sprach wie einstmals Pinochet von einem Krieg in dem man sich befinde. Diese Meinung allerdings teilten nicht alle Militärs. Sie erkannten in den Protesten kein militärisches, sondern ein politisches Problem, das gefälligst auch die Politik zu lösen hätte. Piñera entschuldigte sich, doch die Straße nahm ihm seine Entschuldigung nicht ab. Zu den verschiedenen Krisen gesellte sich eine institutionelle.
Soziale Krise. Versuchte Piñera zu Beginn erfolglos mit Gewalt die Proteste in Griff zu bekommen, so begann er die Taktik zu ändern, doch es war zu spät. Die Ankündigung einiger sozialer Maßnahmen beruhigten die Protestierenden nicht.
Wer demonstriert? Unter den Protestierenden befindet sich auch dieses Mal die große Gruppe der „ninis“ – (ni estudian, ni trabajan“), der 15 bis 35 Jährigen, die weder studieren noch (dauerhaft) Arbeit haben. 600.000 sollen es sein. Doch selbst aus den wohlhabenderen Stadtteilen gewann der Protest an Zulauf. Und er ist generationsübergreifend. „Wir arbeiten uns zu Tode, Bildungs- und Gesundheitssystem sind miserabel, und am Ende bekommen wir eine Minirente von ca. € 200“. Bei Preisen wie in Deutschland reicht sie bei weitem nicht zum Leben. Die Studierenden beklagen hohe Studiengebühren und Stipendien, die sie nicht zurückzahlen können. Dass Chile zu den Ländern Lateinamerikas mit der größten Kluft zwischen arm und reich gehört, ist hinlänglich bekannt. Das Bewusstsein darüber und über den Mangel an sozialer Gerechtigkeit ist gewachsen.
Politische Krise. In Chile haben wir es inzwischen wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch, mit einer Krise der repräsentativen auf die Mitwirkung von Parteien basierenden Demokratie zu tun. Parlament und Parteien rangieren auf den letzten Plätzen in der Beliebtheitsskala. „Die da oben sind alle korrupt und bereichern sich auf unsere Kosten!“ Gekommen ist so die Stunde (rechts)radikaler Politiker vom Schlage Bolsonaros. Der Schlachtruf „El pueblo unido, avanza sin partidos“, erschallt wieder auf den Straßen Chiles („Das geeinte Volk kommt weiter – ohne Parteien“).
Der Präsident und sein Amt haben, hat in den letzten Wochen an Autorität verloren. Folglich kommt dem Parlament im politischen Prozess heute eine größere Bedeutung und Initiativfunktion zu. Es setzt die Rahmenbedingungen. Die Entwicklungen sind recht widersprüchlich.
Polizei und Militär: Institutionelle Schwachstelle sei die Polizei als autoritärer Fremdkörper in der Demokratie mit viel Korruption in den Führungsetagen und mangelhafter Ausbildung bei den unteren Rängen. Menschenrechte halten manche Militärs und Polizisten für eine kommunistische Erfindung. Daher verwundert es nicht, dass die Polizei mit schweren Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang gebracht wird (durch unzählige Videos belegt), mit Brandstiftungen, Vergewaltigungen und Mord.
Die Medien zeigten kaum die Gewalt der Polizei, dafür umso breiter die Gewalt, die von den Protestierenden ausging bzw. angeblich ausging. Die politische Rechte wiederum suchte die Protestbewegung mit diesen Bildern zu diskreditieren. Zweifellos plünderten Kriminelle wie schon bei früheren Anlässen Supermärkte (z. B. bei Erdbeben). Ja, es gab Vandalismus doch selten zuvor wurde der Verdacht so massiv geäußert, dass hinter manchen Plünderungen die Polizei, dein Freund und Helfer, selbst gestanden hätte.
Wenig Beachtung in den Medien finden dagegen Formen der Selbstorganisation wie die sog. Cabildos Abiertos auf kommunaler Ebene, in denen diskutiert wird, was sich ändern muss. Locker zusammengeschlossen in der Unidad Social spielen Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft (NGOs) katalytische Rollen. Erstaunlich ist der lange Atem der Demonstrationen. Doch wollen sie nicht verpuffen, müssen sie in organisatorisch-institutionelle Bahnen münden. In dem zentralistischen Land Chile gewinnt gerade die kommunale Ebene durch die Proteste erheblich an politischer Bedeutung. So wird es bereits am 15.12.2019 zu einem kommunalen Plebiszit kommen.
Zukunftsszenarien. Vor kurzem einigten sich Regierungsparteien und Opposition (außer Kommunistische Partei Chiles und Teile der Frente Amplio, die nicht eingeladen waren) auf eine „Vereinbarung für den Frieden“ mit Zeitplan (Acuerdo por la paz): für April 2020 wird ein Plebiszit zur Frage anberaumt, ob eine neue Verfassung ausgearbeitet werden soll, und wenn ja, soll innerhalb von sieben Monaten eine verfassungsgebende Versammlung einberufen werden. Die Annahme der neuen Verfassung bedarf dann einer Zustimmung von 2/3 aller Wahlberechtigten. Ansonsten bliebe es bei der alten Verfassung. Viele Hürden gilt es zu überwinden.
Streit ist vorprogrammiert bei Fragen wie Abstimmungspflicht und der Zusammensetzung der Verfassungsgebenden Versammlung. Wird sich die Protestbewegung auf einen so langen Zeitraum einlassen? Die meisten wollen doch eine Veränderung jetzt! Und schließlich die Frage, werden die herrschenden Eliten eine Verfassung mit einschneidenden Veränderungen zu ihren Ungunsten akzeptieren?
Überlegungen zu einer weitreichenden Verfassungsreform sind schon 2010 angestellt worden, wie ein Gast feststellte, allein es fehlte bislang der politische Willen zur Umsetzung. Bei allen Parteien. Auch die Linke hatte sich größtenteils mit dem System arrangiert. Jetzt aber unter Druck der Straße muss die Politik handeln.
Lobende Worte fand Hugo Calderón für die Justiz, die bereit ist, die Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen. Teile der Demokratie Chiles funktionieren noch. Also auch einmal keine Straflosigkeit?
In der LAF-Diskussion kamen beide Seiten zu Wort: diejenigen, die optimistisch in die Zukunft schauen und solche, die Zweifel hegen, ob sich eine Alternative zum aktuellen System durchsetzen lässt. Dass Nationalisierungen – wenn getragen von einem breiten politischen Konsens – grundsätzlich möglich sind, das hatte Evo Morales vorgemacht. Oder ein früherer chilenischer Präsident namens Salvador Allende.
Beitrag von Werner Würtele
Foto Credits Beitragsbild: Flickr, cameramemories, DSC_0121, CC BY-NC 2.0
Nachtrag: die Veranstaltung war mit weit über 60 Gästen wieder sehr gut besucht. Einführend zeigten wir den Film „Chile in Flammen“. Der 2. Teil des Abends war den aktuellen Ereignissen in Bolivien gewidmet. s. Bolivien: zwischen Gewalt und Dialog
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Podcast: Nueva Sociedad,enero 2020: Qué pasa en Chile?
IPG 22.10.2019, Im Geiste Pinochets. Viele Chilenen haben die neoliberale Politik ihrer Regierung satt. Die rechte Regierung setzt auf die brutale Unterdrückung durch das Militär. Von Simone Reperger