Bolivien: zwischen Gewalt und Dialog

Bolivien: zwischen Gewalt und Dialog: Die Diskussion um die jüngsten politischen Geschehnisse im lateinamerikanischen Andenstaat Bolivien erhitzt allerorts die Gemüter. Die Frage, ob es sich um einen Putsch oder einen legitimen Machtwechsel nach Wahlbetrug handelt, steht hierbei im Mittelpunkt. Nachdem sich die Diskussionsrunde im ersten Teil des Abends  am 21. November den Protesten in Chile […]

Bolivien: zwischen Gewalt und Dialog: Die Diskussion um die jüngsten politischen Geschehnisse im lateinamerikanischen Andenstaat Bolivien erhitzt allerorts die Gemüter. Die Frage, ob es sich um einen Putsch oder einen legitimen Machtwechsel nach Wahlbetrug handelt, steht hierbei im Mittelpunkt.

Nachdem sich die Diskussionsrunde im ersten Teil des Abends  am 21. November den Protesten in Chile zugewandt hatte (siehe Beitrag „Chile ist erwacht“) nahm sie sich anschließend den Entwicklungen in Bolivien an.
Bettina Schorr vom Lateinamerika-Institut der FU Berlin erläuterte die Unterschiede zwischen Chile und Bolivien.  Richten sich die Proteste in Chile primär gegen das sog. neoliberale Entwicklungsmodell, so in Bolivien gegen eine Regierung Evo Morales, der es in erster Linie um den Machterhalt gegangen sei, die Verfassung und ein Referendum missachtend. Das Fass zum Überlaufen brachten dann anscheinende Wahlmanipulationen.
In Bolivien fanden sich auf der Straße sowohl Gegner Evos von rechts als auch von links zusammen. Hier sticht eine widersprüchliche Informationslage und die starke Polarisierung der Gesellschaft ins Auge. Dies spiegelte sich auch in der streckenweise sehr emotional geführten Diskussion im LAF wider.


Tatsache ist, dass das Militär Evo Morales den Rücktritt „empfahl“, während gleichzeitig die Polizei meuterte.  Und dies, nachdem er bereits Neuwahlen angekündigt hatte. War das kein „golpe de estado“? Einigkeit gab es zu dieser Frage an dem Abend nicht. Allerdings wurde deutlich, dass es sich um eine komplexe Gemengelage handelt, bei welcher man sich vor schwarz-weiß Kategorien wie Gut und Böse hüten sollte.
In der Diskussion wurden die Verdienste der Regierungen Morales aufgeführt, so z.B. die gesunkene Armutsquote, der Verabschiedung einer der fortschrittlichsten Verfassungen der heutigen Zeit und die Öffnung der politischen Bühne für indigene AkteurInnen. Aber auch der Demokratieabbau in den letzten Jahren.
Deutlich benannt wurden die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interessen, die  Interimspräsidentin Jeanine Áñez und der „Bolsonaro Boliviens“ Luis Fernando Camacho (Santa Cruz) vertreten: die Interessen der traditionellen bolivianischen Macht- und Wirtschaftseliten mit starker Verbindung zu rechtskatholischen Kreisen.
Alte Fronten sind wieder aufgebrochen, die Gesellschaft ist polarisiert. Politische Auseinandersetzungen mit Gewalt auszutragen, hat eine lange Tradition in Bolivien. Die Proteste und gewaltsamen Zusammenstöße haben bereits etliche Menschenleben gekostet, wie eine anwesende Bolivianerin berichtet, die zu ihrem Bekanntenkreis sowohl Morales-GegnerInnen, als auch AnhängerInnen zählt. Die starke Polarisierung führt nicht selten zu mehr Gewalt und zu abnehmender Dialogbereitschaft. Bereits jetzt sind rassistisch motivierte Übergriffe zu verzeichnen. Das Anzünden der indigenen Wiphala Fahne hat die Stimmung besonders angeheizt.
Die eskalierende Gewalt auf den Straßen wurde auch noch durch ein Dekret befeuert, welches dem Militär weitgehend Straffreiheit im Einsatz zusichert. Hat der politische Dialog noch eine Chance?

Überraschende Einigung

Erstaunlicherweise ja. MAS und die früheren Oppositionsparteien konnten sich inzwischen auf einen Termin für die Neuwahlen im März 2020 und die Bedingungen dazu einigen. Dazu gehört z.B., dass PolitikerInnen der ersten Ebene nicht wieder für das gleiche Amt antreten dürfen und damit Evo Morales nicht für das Präsidentenamt. Offen ist, ob sich die linke Bewegung des Sozialismus (MAS) bis dahin neu strukturieren kann, was eine Selbstkritik voraussetzen würde und eine Auseinandersetzung mit den Fehlern und Erfolgen der Regierungsjahre. Gleichzeitig müssen die Übergangspräsidentin und ihre Regierung die politische Verfolgung stoppen, und einen fairen Wahlprozess garantieren.
Der von Opposition, Regierung und Gewerkschaftsorganisationen verabschiedete Pakt der Einheit (Pacto de Unidad), ist ein richtungsweisender positiver Schritt, um weitere Gewalteskalationen einzudämmen.
Das Lateinamerika-Forum dankt den beteiligten Diskutanten und allen Gästen für diesen spannenden Austausch und freut sich auf weitere Diskussionsrunden.


Bericht von Katharina Kist und Werner Würtele

Wir empfehlen den sehr lesenswerten Artikel von Fernando Molina in der Nueva Sociedad vom November 2019 „Bolivia – golpe-o-contrarevolucion“