Hannah Arendt in Lateinamerika

Die Veranstaltung widmete sich der Frage, wie das Denken Hannah Arendts – einer zutiefst politischen und zugleich radikal-humanistischen Denkerin – in Lateinamerika rezipiert wird und welche Relevanz ihre Ideen heute haben.

Ein Bericht von Erik Bergmann und Luiz Ramalho

Die Veranstaltung widmete sich der Frage, wie das Denken Hannah Arendts – einer zutiefst politischen und zugleich radikal-humanistischen Denkerin – in Lateinamerika rezipiert wird und welche Relevanz ihre Ideen heute haben. Dabei wurde Arendt nicht als lateinamerikanische Denkerin verstanden, sondern als Philosophin mit universeller Strahlkraft, deren Werk auch in Kontexten des Globalen Südens Anwendung findet.

Arendts Aktualität und Relevanz

Zu Beginn wurde Arendts Ansatz hervorgehoben, die Welt verstehen zu wollen – nicht aus distanzierter Theorie, sondern mit einem zutiefst menschlichen, politischen Anspruch. In Zeiten zunehmender Entgrenzung von Macht, wachsender Personalisierung von Politik und globaler Polarisierung stellt sich die Frage neu: Was bedeutet Arendt heute?

Referent Ole Meinefeldt betonte, dass sich Arendts Verständnis von Politik stark auf das Handeln freier Personen im öffentlichen Raum beziehe – nicht auf charismatische autoritäre Machthaber. Die zunehmende Personalisierung, wie sie u. a. in der Trump-Administration sichtbar wurde, führe zu einer Verarmung des politischen Diskurses. Arendt stelle dagegen das Ideal einer pluralen Öffentlichkeit, in der Menschen aus unterschiedlichen Positionen heraus handeln, ohne diese Differenz aufzuheben.

Rezeption in Lateinamerika

Ellen Spielmann präsentierte beeindruckende Zahlen zur Rezeption Arendts in Brasilien: Mehr als 650 Magisterarbeiten und 250 Dissertationen wurden dort zu Arendt verfasst – deutlich mehr als in Europa. In São Paulo besteht ein Hannah-Arendt-Institut an der juristischen Fakultät, gegründet durch einen ehemaligen Schüler Arendts. Ihre Werke fanden unter anderem in den kolumbianischen Friedensverhandlungen der 1980er Jahre Anwendung und prägten den Aufbau zivilgesellschaftlicher Diskurse.

Besonders in juristischen und bildungspolitischen Kreisen Lateinamerikas wird Arendt intensiv rezipiert. Ihre Gedanken zu Autorität, Bildung und Zivilgesellschaft bieten Anknüpfungspunkte für Demokratiediskurse in Regionen, die durch autoritäre Vergangenheit und fragile Institutionen geprägt sind.

Arendt, Populismus und demokratische Strukturen

Ellen diskutierte Arendts Kritik an autoritären Systemen und die Lehren, die sich daraus für heutige Demokratien ziehen lassen. Arendt befürwortete keine klassische repräsentative Demokratie, sondern betonte basisdemokratische Strukturen und die aktive Rolle der Zivilgesellschaft – ein Gedanke, der heute gerade im Kontrast zu populistischen Bewegungen wieder aktuell ist.

In der Diskussion wurde auch kritisch angemerkt, dass sich Personenkult nicht nur im rechten, sondern auch im linken Spektrum zeigt – etwa am Beispiel Lula in Brasilien. Ein Teilnehmer verwies darauf, dass Arendt zwar kein systematisches Demokratietheorie-Modell entwarf, ihre Schriften jedoch eine analytische Schärfe besitzen, die politische Entwicklungen tiefgreifend beleuchten kann. Im Anschluss wurde ein Vergleich zu Chantal Mouffe gezogen, wobei offen blieb, ob sich Arendt ähnlich weiterentwickeln lässt.

Erinnerungskultur und Menschenrechte

Ein weiterer Fokus lag auf der Anwendung von Arendts Denken im Kontext der Militärdiktaturen in Lateinamerika. In Brasilien und Argentinien wurde Arendt von Aktivist:innen gegen die Diktatur rezipiert, insbesondere ihre Arbeiten zum Totalitarismus und zur Verantwortung des Einzelnen. In Chile fanden mehrere Symposien zu Arendts Werk statt, in Argentinien wurden Schriften veröffentlicht, die sich mit jüdischem Widerstand auseinandersetzen.

Auch ihr berühmtes Zitat „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ wurde diskutiert – ein Ausdruck ihres Widerstands gegen blinden Gehorsam, jedoch mit dem Hinweis, dass es aus einem spezifischen historischen und persönlichen Kontext stammt.

Verhältnis zur Frankfurter Schule

In einer Abschlussfrage wurde Arendts Verhältnis zur Frankfurter Schule thematisiert. Es wurde klargestellt, dass sie sich bewusst von dieser abgrenzte – sowohl persönlich als auch inhaltlich. Arendt habe sich nicht als Soziologin verstanden und veröffentlichte teilweise unterschiedliche Ausgaben ihrer Werke auf Deutsch und Englisch, jeweils zugeschnitten auf ihr Publikum.

Fazit

Die Veranstaltung zeigte eindrucksvoll, dass Hannah Arendt kein abgeschlossenes Theoriegebäude hinterließ, sondern einen Denkraum eröffnete, der besonders in den politischen Auseinandersetzungen Lateinamerikas produktiv genutzt wird – für Demokratie, Erinnerung und eine Politik des Handelns.

Beitragsbild: Hannes Grobe, CC-BY-SA-4.0