Haiti: Dauerkrise und Kampf ums Überleben

Nur selten ist das Interesse auf das Land gerichtet und wenn, um über neue Ausbrüche der Gewalt oder Erdbeben zu berichten. Anlass zu dieser Veranstaltung war nun der 200. Jahrestag der „Ordenannce“ von 1825, mit der die haitianische Regierung sich bereit erklärte, die immense Summe von 150 Millionen Goldfrancs an Frankreich zu zahlen. Mit der Summe sollten frühere Plantagenbesitzer und Sklavenhalter entschädigt werden.

Ein informierender Kommentar von Werner Würtele

Das Interesse an unserer Onlineveranstaltung zu „Haiti: Dauerkrise und Kampf ums Überleben” hat uns überrascht: 47 Teilnehmende (bei 78 Anmeldungen). Nur selten ist das Interesse auf das Land gerichtet und wenn, dann um über neue Ausbrüche der Gewalt oder Erdbeben zu berichten. Anlass zu dieser Veranstaltung war nun der 200. Jahrestag der „Ordonnance“ von 1825, mit der die haitianische Regierung sich bereit erklärte, die immense Summe von 150 Millionen Goldfrancs an Frankreich zu zahlen. Mit der Summe sollten frühere Plantagenbesitzer und Sklavenhalter entschädigt werden.

Eingeladen hatte die Zeitschrift ILA zusammen mit dem Lateinamerika-Forum Berlin am 11. März 2025.

Katja Maurer, die 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international leitete und auf zahlreiche Veröffentlichungen und Blogs zu Haiti verweisen kann, verfolgt seit 2010 die Situation in Haiti. Sie machte den ersten Aufschlag.  

Derzeit wird das Land von einem, von außen installierten, Präsidialgremium aus sieben Mitgliedern “regiert”, wobei alle drei Monate ein anderes Mitglied das Präsidentenamt übernimmt. Für Herbst sind Wahlen angesetzt, was Katja angesichts der gegenwärtigen Lage für “lächerlich” hält. Die im Land stationierten kenianischen Soldaten mit Polizeifunktion könnten nur wenig zur Eindämmung der Bandenkriminalität beitragen.  

Weite Teile des Landes – so Flughafen, Straßen und Seehäfen – sind unter Kontrolle von Banden. Doch gibt es in Port-au-Prince ein sehr gut bewachtes Viertel, in dem die Reichen neben New York und anderen Städten ihren Zweitwohnsitz haben. Katja betont die enge Verflechtung von Banden und Elite, den Mächtigen im Land.

In Haiti ist alles “Para”, es gäbe einen Para-Staat, eine Para-Polizei bis hin zu einer Para-Gesellschaft möchte man hinzufügen. Katja vergleicht die Situation in Haiti mit der des Gazastreifens, ein Vergleich, den der Autor dieses Beitrags jedoch für etwas weit hergeholt hält. Vor ein paar Jahren gab es einen Aufstand der Jungen, die darauf pochten, dass die Verwendung der internationalen Erdbebengelder von 2010 öffentlich gemacht würden. Doch auch dieser zaghafte Ansatz hin zu etwas Rechtsstaatlichkeit wurde mit einem Massaker erstickt. Seither steigt die Gewalt immer mehr mit Waffen aus den USA. Junge Haitianxs haben keine Alternative: entweder sie schließen sich den Gangs an oder sie wandern aus, bevorzugt in die USA.

Doch zeigen sich Wege in die USA zunehmend versperrt. Zu einem beliebten Trittbrettfahrerland, hin zu einer besseren Zukunft wurde Chile, führte Malte Seiwerth, Journalist aus. Malte, aus Chile zugeschaltet, berichtet über Haitis Diaspora in Chile. Haitianxs nach Chile? Das verblüfft auf den ersten Blick. Um in die USA zu gelangen, suchten Haitianxs, die sich ein Flugticket leisten konnten, den Umweg über Chile. Warum? Geführt zeitweilig von der Sozialistischen Partei unter Michelle Bachelet, zeigte sich Chile aus Solidarität offen für Flüchtende aus Haiti. So war es vor 2018 leicht, ein Visum für Chile zu bekommen. Zudem bot Chile Arbeitsmöglichkeiten auf den Feldern, in den Obstplantagen und in den Weinbergen, wo die Migrant:innen gern gesehene billige Arbeitskräfte waren. Chile hat eine vergleichsweise starke Währung – wichtig für die Rücküberweisungen. Doch mit wachsendem Zustrom, der sich z. B. in den nächtlichen Straßen Santiagos bemerkbar machte, wuchs die “Ausländerfeindlichkeit”. Die Möglichkeiten der Haitianxs sich zu integrieren, waren begrenzt, die Hindernisse vielfältig: mangelnde Sprachkenntnisse, ihre so fremde Kultur und die Hautfarbe. 

Bis 2018 gab es sogar Direktflüge von Port-au-Prince nach Santiago. Diese wurden mit einer restriktiveren Immigrationspolitik der chilenischen Regierungen eingestellt. So lange sie Geld mitbrachten, waren sie wohlgelitten. Arme Zuwanderer:innen dagegen wollte man nicht haben. Heute kommen Flüchtende aus Haiti nur noch vereinzelt über die bolivianische Grenze nach Chile. Es war wie mit den venezolanxs

Die aktuelle Situation kann nicht ohne die Geschichte verstanden werden, stellte Moderatorin Heidi Feldt (LAF Berlin) fest und befragte dazu einen weiteren Podiumsteilnehmer: Christian Frings, Autor und Übersetzer.

Haiti ist das Paradoxe in die Wiege gelegt: formal ist das Land seit 1804 unabhängig – darin begründet sich ihr ganzer Nationalstolz -, doch gleichzeitig ist es vom Ausland extrem abhängig. Bis heute wird Haiti für seine siegreiche Revolution bestraft, dafür, dass das Land die Kolonialmächte besiegt hatte. Während Frankreich 1815 alle eroberten Ländereien (und noch mehr) zurückgeben musste, interessierte sich die Wiener Konferenz für die reiche und blühende Kolonie Haiti nicht.

Mit der erfolgreichen Revolution 1804 hofften die Sklav:innen auf eigenen Besitz. Ihre Hoffnungen wurden frustriert. Das Land wurde unter denjenigen verteilt, die die Macht hatten und das waren die Militärs. Es entstand eine neue Grundbesitzerklasse einerseits und arme, revoltierende Landlose andererseits.

Für die Anerkennung der Unabhängigkeit verlangte, wie einleitend erwähnt, Frankreich 1825 von Haiti eine riesige Summe, die sie mit einer Kanonenbootpolitik einzutreiben suchte. Heute wird die Rückgabe der Reparationen in Höhe von ca. sieben Mrd. US$ gefordert. Doch Frankreich denkt nicht daran, dieser Forderung nachzukommen. Zum Vergleich beliefen sich die Hilfsgelder zum Erdbeben 2010 gerade mal auf sieben Mio. US-Dollar. 

Anja Mertineit, zuständig bei Misereor für die Zusammenarbeit mit Haiti und der Karibik, stimmte zu, dass zivilgesellschaftliche Organisationen in Haiti zwar weitgehend zerstört sind, doch mahnte an, den Blick auch über die urbanen Zentren hinaus auf das ländliche Umfeld zu richten. Anja stellte heraus, dass es an der Basis immer noch unterstützungswürdige Initiativen mit sehr engagierten Kolleg:innen gibt. Die Arbeit von Misereor in Haiti sei nicht nur möglich, sondern seit 60 Jahren erfolgreich. 

Misereor kooperiert mit 60 Partner:innen in 65 Projekten, überwiegend in ländlichen Regionen. Fragen wie, Kann man denn in diesem Land überhaupt arbeiten? würden ihre Partnerinnen und Partner erbost zurückweisen. Nein, die Menschen arrangieren sich mit der Realität. Sie müssen es. 

Misereor fördert an der Basis agrarökologische Ansätze, Umweltprojekte, die Sicherstellung der Wasserversorgung, präventive Gesundheitsmaßnahmen und Menschenrechtsnetzwerke. Es gibt sie also immer noch, die hoffnungsvollen Ansätze, wie sie bei der letzten Veranstaltung des LAF zu Haiti – nun schon vor geraumer Zeit – aufgezeigt wurden.  

Britt Weyde, ila-Redakteurin und Ko-Moderatorin wies zum Schluss auf die aktuelle ILA-Ausgabe mit dem Schwerpunktthema „Haiti“ hin. Wir empfehlen die Lektüre.

Eine Kooperationsveranstaltung mit der ila Bonn in Anlehnung an den ila-Schwerpunkt Nr. 483 „Haiti – 1825 – 2025“.

Beitragsbild: Claudette Coulanges