Rechtsradikalismus in Brasilien – Wurzeln und aktuelle Ausprägungen

  Nazismo e Integralismo no Brasil no passado – e no presente? Im Lateinamerika Forum Berlin e.V. am 04.04.2019 Das Thema liefert den roten Faden des Abends im LAF Berlin (auf Portugiesisch), in der brasilianische Expert*innen aus der Literatur-, Sozial- und Geschichtswissenschaft einen kritischen Blick auf Ursprünge und Konzepte der gegenwärtigen extremen Rechten in Brasilien […]

 

Nazismo e Integralismo no Brasil no passado – e no presente? Im Lateinamerika Forum Berlin e.V. am 04.04.2019

v.li. Flavio_Priscilla_Luiz: Wer war Plinio Salgado?

Das Thema liefert den roten Faden des Abends im LAF Berlin (auf Portugiesisch), in der brasilianische Expert*innen aus der Literatur-, Sozial- und Geschichtswissenschaft einen kritischen Blick auf Ursprünge und Konzepte der gegenwärtigen extremen Rechten in Brasilien werfen.
Lügen, Geschichtsverfälschung oder Wahrheit – wem ist was heutzutage noch zu glauben? Der amtierende Außenminister Brasiliens z. B. vertritt die Auffassung, der National-Sozialismus sei eine originär linke Bewegung gewesen. Er nennt ihn in einem Atemzug mit der Arbeiterpartei PT, die ergo kommunistisch als auch national-sozialistisch in Einem sei.

 

Vinicius: von der Geschichte zur Gegenwart – Kontinuitäten

Soziologe und Moderator Dr. Luiz Ramalho eröffnet die Gesprächsrunde mit einer kurzen Vorstellung der Sprecher*innen: zu Gast sind der Professor, Journalist, Autor und Übersetzer Flávio Wolf de Aguiar, die Doktorandin im Bereich der Linguistik und Literaturwissenschaft Priscilla Lopes d’ El Rei (derzeit Budapest) und der Historiker Vinícius Bivar (derzeit LAI Berlin).

Die Veranstaltung beginnt mit drei Kurzvorträgen. So konzentriert sich Flávio Wolf de Aguiar zunächst auf den Begründer und Vordenker des Integralismo in Brasilien, Plinio Salgado, einem rechtsgerichteten einflussreichen Autor der 20er/30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Bekannt wurden vier seiner Romanzen, die sich insofern ähneln, als dass sie einen moralistischen Stil pflegen und die romantische Erwartung an einen Retter der Nation („Führer“) bedienen.

Der Integralismo wird oft mit dem italienischen Faschismus oder gar mit dem deutschen National-Sozialismus gleichgesetzt. Richtig ist, der Integralismo verfolgt eine autoritäre, antiliberale, korporatistische Ideologie mit Führerkult, doch ist ihm Rassismus oder Anti-Semitismus eher fremd. Als rechtskatholische Bewegung steht er dem Salazarismus und Franquismus erheblich näher als der NS-Ideologie. Wichtig zu wissen: bis heute gibt es in Brasilien mehrere Einrichtungen zur politischen Bildung, die sich am Integralismus orientieren. Auch Priscilla Lopes d’ El Rei stellt eine wichtige Figur in den Mittelpunkt ihres Vortrags. Sie beschreibt die Werke der deutschen Schriftstellerin und NaziPropagandistin Maria Kahle. Diese genoss bereits während des 1. Weltkriegs eine hohe Popularität in den „deutschen Kolonien“ Brasiliens und führte ihren völkischen Diskurs während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland als Gesandte der NSDAP dort weiter. Bis heute ist unter Deutsch-Stämmigen ein gewisser Rassendünkel feststellbar („superioridade alemã“), doch nicht alle unterwarfen sich blind den Vorstellungen der NSDAP Auslandsorganisation. Und heute? Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 soll der rechtsextreme Kandidat Bolsonaro höchste Stimmenzahlen in diesen sog. deutschen Kolonien erzielt haben.

… und wer Maria Kahle?

Der Historiker Vinícius Bivar bringt einen wichtigen weiteren Punkt in die Gesprächsrunde ein, indem er die Kontinuität der Bedeutung des Nationalismus, Konservativismus und der Religion in Brasilien betont. Er lenkt dabei den Blick auf 2 drei für die brasilianische Geschichte besonders entscheidende Momente: die 30 er Jahre unter Getulio Vargas („Estado Novo“), die Zeit vor und nach dem Militärputsch 1964 (unter anderem unterstützt von der rechtskatholischen Bewegung Tradição, Familia, Propriedade TFP) und schließlich die aktuelle Phase (Unterstützung Bolsonaros durch die evangelikalen Pfingstkirchen). In allen Phasen diente Religion zur Legitimation autoritärer Herrschaft und der Unterdrückung von Opposition. Auf die Vorträge folgt eine angeregte Diskussion mit dem Publikum über aktuelle Phänomene brasilianischer Politik, Bolsonaros Wahlsieg und Aufstieg der UltraRechten. Wie konnte es dazu kommen? An erster Stelle ist zu nennen, dass der aussichtsreichste Kandidat, Luiz Inácio Lula da Silva, durch einen politisch motivierten Prozess von einer Wahlteilnahme ausgeschlossen wurde. Dann: die allgemeine Politikverdrossenheit in der brasilianischen Bevölkerung, die Angst vor dem Verlust von Privilegien und vor sozialem Abstieg der Mittelklassen, der generelle Korruptionsverdacht gegenüber allen „die da oben“ (classe política), der von und in den (traditionellen und sozialen) Medien geschürte Hass gegen die Arbeiterpartei gehören zu den wichtigsten Gründen, die zu Bolsonaro geführt haben. Wenig Trost, dass nicht nur Brasilien seinen Bolsonaro hat, die Rechte weltweit auf dem Vormarsch ist und der Vertrauensverlust in demokratische Institutionen nahezu überall zu beobachten ist.

Sind seine Tage schon gezählt?

Die Hoffnungen progressiver Kräfte richten sich in Brasilien darauf, dass die autoritäre Bolsonaro-Regierung über kurz oder lang an ihren internen Widersprüchen zerbrechen wird. Doch dann könnten sich die Militärs, die bereits acht Ministerien besetzen – wieder einmal – „gezwungen“ sehen, die „Nation zu retten“ … Der Abend bot vielfältige Anstöße zur Fortführung der Diskussion in kleinen Gesprächsgruppen auch nach dem „offiziellen“ Ende der Veranstaltung. So soll es sein.

 

Bericht von Hannah Freist und Werner Würtele