Paulo Freire: nachhaltige, vielseitige und sich vermehrende Erfahrungen

Lateinamerikanische Gäste berichten im LAF über ihre Erfahrungen mit dem Paulo Freire-Ansatz Hunderte von lateinamerikanischen Lehrer/innen und Aktive in sozialen Bewegungen hatten seit 1997 hier in Deutschland und Lateinamerika an Fortbildungs- und Austauschseminaren „Lernen im Dialog mit Lateinamerika“ teilgenommen und sich mit deutschen KollegInnen ausgetauscht. Die Seminare orientierten sich an Konzepten des brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire. […]

Lateinamerikanische Gäste berichten im LAF über ihre Erfahrungen mit dem Paulo Freire-Ansatz

Paulo Freire interessiert

Hunderte von lateinamerikanischen Lehrer/innen und Aktive in sozialen Bewegungen hatten seit 1997 hier in Deutschland und Lateinamerika an Fortbildungs- und Austauschseminaren „Lernen im Dialog mit Lateinamerika“ teilgenommen und sich mit deutschen KollegInnen ausgetauscht. Die Seminare orientierten sich an Konzepten des brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire. Organisiert wurden sie vom Paulo Freire Institut Berlin unter Leitung von Frau Dr. Ilse Schimpf Herken.
Vor 20 Jahren war Paulo Freire gestorben, vor 20 Jahren war auch das Paulo Freire Institut gegründet worden. Dem Ruf zur Teilnahme an der Berliner Tagung im Oktober 2017 zum Jubiläum waren fast 50 frühere lateinamerikanische Fortbildungsteilnehmende aus Chile, Peru, Kolumbien, Honduras, El Salvador, Guatemala ….  gefolgt, die für ihre Reisekosten selbst aufkamen, – ein großes Zeugnis für Verbundenheit, Interesse und Engagement!

Vorstellung der Gäste. Fast ein Dutzend lateinamerikanische Gäste aus diesem Kreis beehrten das LAF am 19. Oktober mit ihrer Anwesenheit und wurden herzlich vom Präsidenten des LAF Werner Würtele begrüßt. „20 Jahre in Bewegung mit dem brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire“ so lautete die Überschrift des gemeinsam von Paulo Freire Institut und LAF Berlin organisierten Abends. Die Veranstaltung wurde spanisch/deutsch übersetzt.

Ilse Schimpf-Herken moderierte und stellte die lateinamerikanischen Gäste des Abends vor.

Monica Seguel

Monica Seguel (Vagamundos) aus Chile hatte bereits 1997 an einem von der chilenischen Regierung finanzierten großen Auslandsstipendienprogramm für Lehrer/innen teilgenommen und war in Folge dessen nach Deutschland gekommen. Wie können Themen des Alltags der Schüler/innen und Gemeinden, z. B. Umweltfragen und der Umgang mit Konflikten in das Curriculum integriert werden? Der Ansatz von Paulo Freire sollte hier weiterhelfen. Hier in Deutschland hörte sie das erste Mal von Paulo Freire und seiner Pädagogik der Befreiung, da die Diktatur in Chile (1973-1989) die Befassung mit Freire verboten hatte.

Als zweiter stellte sich Marvin Portillo aus Guatemala vor, der an einem ganzjährigen Kurs in Deutschland (unter anderem ging es um Mathematik und Sprachenvielfalt) teilgenommen hatte. Er arbeitet wie auch Maura Villagrez an einer Lehrerfortbildungseinrichtung. Es folgten Nixon, ein Indigena aus dem Valle del Cauca/Kolumbien,  dessen Thema die Konflikttransformation in einem von der indigenen Bevölkerung selbst verwalteten Gebiet ist, und Mariana Schmidt Quintero (Cali), eine kolumbianische Psychologin, Autorin und Herausgeberin.

Alle äußerten sich positiv über ihre Lernerfahrung in Deutschland und mit dem Institut Paulo Freire. Die Kurse hätten sie inhaltlich weitergebracht, ihr Tun aufgewertet und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt. Auch ganz wichtig: die weitere Kommunikation und Vernetzung der Kursteilnehmenden über Landesgrenzen hinweg nach Kursende. Nicht nur Süd-Nord-, sondern auch die Süd-Süd-Beziehungen wurden angebahnt und vertieft.

Im Zuge der Veranstaltung stellten zwei Gäste ihre Projekte näher vor.

Schreibprojekt von Mariana

In ihrem „Schreibprojekt“ bringt Mariana Schmidt Quinteros verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammen, welche sich früher als Gegner und Feinde begegnet waren: demobilisierte Guerilleros, ehemalige Militärs und unbeteiligte Opfer des Konflikts. Das Ziel des Projektes ist eine Buchveröffentlichung mit Beiträgen von Opfern und Tätern, über deren oft traumatischen Erfahrungen von Krieg und Gewalt. Das Schreibprojekt wurde zur Stätte der Begegnung zwischen früheren Gegnern. Ein Beitrag zum Aufbau des Friedens in Kolumbien von unten.
An dieser Stelle erkannte eine Teilnehmerin des Abends Parallelitäten zu ihrer Arbeit in Berlin-Gatow mit traumatisierten Kriegsflüchtlingen. Langsames einfühlsames Vorgehen sei angesagt, über Spiele und Symbole müsse Vertrauen gebildet werden, um schließlich zum befreiten Lachen beim gemeinsamen Tun zu kommen.

Maura

Maura Villagrez, eine Maya-Guatemaltekin, unterrichtet an der bilingualen Lehrerfortbildungseinrichtung ENBI. Mit Paulo Freires Ansatz hatte sie sich schon in Guatemala befasst, allein, erst in Berlin erfuhr sie, wie dieser in Praxis umgesetzt werden konnte. Anstatt des Standardfrontalunterrichts werden die angehenden Pädagogen ganz nach Paulo Freire in Gruppen partizipativ unterrichtet. ENBI ist eine Hochschule der Maya-Ethnie der Mam. An der Hochschule wird mit auf die Praxis bezogenen generativen Themen gearbeitet. Guatemala gehört zu den Ländern mit der violentesten Geschichte, unter der insbesondere die indigene Bevölkerung zu leiden hatte. Ihre Kulturen, ihre Sprachen, ihre Spiritualität (cosmovisión) waren über Jahrhunderte unterdrückt worden. Wir sind auf dem Weg, das Ziel – die uneingeschränkte Anerkennung unserer Kulturen und Rechte – aber haben wir in der Praxis noch lange nicht erreicht, stellt Maura fest. Selbstbewusst fügt sie hinzu: „Wir Mayas lieferten und liefern einen wichtigen Beitrag zu den Kulturen der Welt!“

Sued-Nord-Austausch

In der abschließenden Diskussion wurde auf die unterschiedlichen Rechte der indigenen Bevölkerung in den verschiedenen Ländern eingegangen. Am weitesten fortgeschritten scheint Kolumbien, wo die ILO-Konvention 169 kein Fremdwort mehr ist, sondern umgesetzt wird („rechtzeitig, umfassend und informierte Beteiligung der indigenen Lokalbevölkerung“). Doch welches Recht hat Priorität: das staatliche oder das indigene? In Kolumbien gibt es darüber nur wenige Konflikte. Nixon merkte an, dass seine Region schon seit vierzig Jahren autonom verwaltet und dies staatlicherseits anerkannt würde.  Kolumbianische Indigene verstehen sich wie die Zapatistas als Angehörige ihres Nationalstaats. Das ist in Chile anders. Hier gibt es weiter die Konfrontation zwischen der Zentralregierung und den Mapuches, bei mangelnder gegenseitiger Anerkennung.

Der Abend endete mit viel Beifall, Empanadas, Wein, guten Wünschen und weiteren privaten Gesprächen.  Die Veranstaltung zählte eindeutig zu den Highlights in der Geschichte der LAF-Veranstaltungen. Werner Würtele dankte Ilse Schimpf-Herken und Team, den lateinamerikanischen Gästen und dem zahlreich erschienen Publikum für Beiträge und Teilnahme.

Bericht: Lisa Kütemeier, Praktikantin und Werner Würtele

Paulo Freire lebt

Fotos: Bernd Schulze

Das Paulo Freire Institut ist eine unabhängige und gemeinnützige Organisation für Bildungsarbeit, Friedensförderung und dialogische Pädagogik.