Nach den US-Wahlen: Was kommt auf Lateinamerika zu?

Zum „Ausgang der US-Wahlen aus lateinamerikanischer Perspektive – zwischen Jubelschreien, Indifferenz und Zähneknirschen“, LAF Online-Veranstaltung am 5.11.2020 Die Wahlen in den USA sind nach turbulenten Tagen zu einem Ergebnis gekommen: Der Demokrat Joe Biden wird neuer Präsident der Vereinigten Staaten Amerikas. Während dieser zu Einigkeit aufruft, hetzt Donald Trump seine Anhängerschaft weiterhin mit Falschinformationen zu […]

Zum „Ausgang der US-Wahlen aus lateinamerikanischer Perspektive – zwischen Jubelschreien, Indifferenz und Zähneknirschen“, LAF Online-Veranstaltung am 5.11.2020

Die Wahlen in den USA sind nach turbulenten Tagen zu einem Ergebnis gekommen: Der Demokrat Joe Biden wird neuer Präsident der Vereinigten Staaten Amerikas. Während dieser zu Einigkeit aufruft, hetzt Donald Trump seine Anhängerschaft weiterhin mit Falschinformationen zu angeblichem Wahlbetrug auf.
Die Fragen, die in der Online-Veranstaltung näher beleuchtet werden, lenken den Blick dabei auf die lateinamerikanischen Länder und die dortigen Erwartungen, Hoffnungen und Ängste mit Blick auf den Ausgang der Wahlen in den USA. Zum Zeitpunkt der Online-Veranstaltung stand das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen noch nicht fest.

Bernd Pickert

Angeleitet durch die Doppelmoderation von Dr. Werner Würtele und Dr. Juliana Ströbele-Gregor diskutieren der taz-Auslandsredakteur und USA und Lateinamerika-Experte Bernd Pickert und Prof. Dr. Wolfgang Muno vom Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock über eine Reihe von Fragen zur Präsidentschaftswahl in den USA und ihren Implikationen für die zukünftige Beziehung zur lateinamerikanischen Nachbarschaft. Im Anschluss ergänzen die Gäste Dr. Margarita Zires (Universidad Autónoma Metropolitana-Xochimilco), Dr. Ingrid Wehr (Heinrich-Böll-Stiftung Santiago de Chile), Mario Schenk (Amerika21) und Daniel Belalcazar (Student der Humboldt Universität Berlin) die Analysen der beiden Experten um Perspektiven aus Mexiko, Chile, Brasilien und Kolumbien.
Die Diskussion lässt sich in vier Schwerpunktthemen unterteilen, die im Verlauf des Abends zur Sprache kommen: Die Wahlanalyse mit Fokus auf dem sogenannten „latino vote“, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lateinamerikapolitik von Donald Trump und Joe Biden, lateinamerikanische Perspektiven und zuletzt mögliche Zukunftsszenarien je nach Wahlausgang.

Wolfgang Muno

Die Illusion, es gebe einen „latino vote“ und dass dieser sich kontinuierlich demokratisch in den Wahlen niederschlage, sollte Bernd Pickert und Prof. Dr. Wolfgang Muno zufolge spätestens zum jetzigen Zeitpunkt von der Komplexität der Realität zerschlagen worden sein. Viel sinnvoller erscheint ihnen die Frage danach, welche Argumente, welche Verhaltensweisen und welche Rhetorik für die diversen lateinamerikanischen Gruppen in dieser Wahl eine Rolle gespielt haben. Wie haben die kubanischen, puertorikanischen oder die mexikanischen Communities (letztere mit über 60% die größte) überwiegend gewählt und warum? Wer tendiert zu konservativen Einstellungen, wer lässt sich von anti-kommunistischen Argumenten und einer Macho-Rhetorik anziehen und wer interessiert sich für welche Themen der Wahlkampagnen vom Umgang mit Corona über die Wirtschaft, bis hin zu Herausforderungen in der Umweltpolitik und den Fragen innerer Sicherheit?
Um die Sorgen und Hoffnungen in den lateinamerikanischen Ländern selbst mit Blick auf die US-Wahlen besser zu verstehen, werfen die Experten einen Blick auf die Außenpolitik der beiden Präsidentschaftskandidaten. Welche Strategien verfolgte etwa Donald Trump in seiner bisherigen Präsidentschaft mit Blick auf die lateinamerikanische Nachbarschaft? Die Antwort zu dieser Frage fällt sehr kurz aus: Faktisch keine. Welche Erwartungen können dahingegen an einen Präsidenten Biden erhoben werden? Wie hat er sich als Vize-Präsident unter Barack Obama in den außenpolitischen Beziehungen zu Lateinamerika positioniert, welche Maßnahmen hat er unterstützt oder selbst angestoßen? Vor allem die Tatsache, dass es unter Obama zu einer der höchsten Deportationszahlen von Migrant:innen zurück nach Lateinamerika gekommen ist, gibt einen Grund zur Skepsis gegenüber dem demokratischen Kandidaten.

Ingrid Wehr

Daniel Belacazar

Im Verlauf der Länder-Beiträge aus Chile, Mexiko, Brasilien und Kolumbien wird deutlich, dass die lateinamerikanischen Länder sich nicht nur in ihren Positionen zu den US-Wahlen, sondern auch in ihrem Interesse unterscheiden. Während sich in Chile die Aufmerksamkeit für die USA in Grenzen hält, fürchtet sich der brasilianische Präsident Bolsonaro vor dem Verlust seines wichtigsten internationalen Partners. Auch der kolumbianische Präsident Duque erkannte in Trump einen Verbündeten gegen den sogenannten „Castrochavismo“, Ganz ungestört war die Freundschaft allerdings nicht. Trump drohte Duque offen mit Sanktionen, würde er nicht energischer gegen Drogenkriminelle vorgehen. Selbst die mexikanische Regierung unter dem linkspopulistischen López Obrador (AMLO) hat eine paradoxe Beziehung zu Donald Trump entwickelt. Bei gegenseitigen Besuchen bezeichneten sie sich als Freunde, handelten ein neues Freihandelsabkommen unter Einschluss Kanadas aus. Die Mauer blieb unvollendet, doch Trumps Druck erreichte, dass sie in Form von Tausenden mexikanischer Soldaten an die Südgrenze Mexikos verlegt wurde.

Margarita Zires

Mario Schenk

Mario Schenk

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Eindrücke bleiben die Zukunftsszenarien ein Ort der Spekulation. Jetzt heißt es abwarten, wie Joe Biden die Rolle als Präsident der USA ausfüllt und welche Maßnahmen er zu einer Wiederbelebung der Beziehungen zu Lateinamerika vornehmen wird. In Lateinamerika und der Karibik selbst ist ein Aufatmen zu verspüren. Gespannt schauen wir auf Reaktionen derjenigen Präsidenten, die ihr Schicksal so eng an Trump gebunden hatten.
Nachtrag: Joe Biden erreichte mit 74 Mio. Stimmen die höchste Zahl in der Geschichte, die ein Präsident auf sich konzentrieren konnte. Doch auch Trump übersprang die 70 Mio. Grenze. Den USA stehen unruhige Zeiten bevor. Mit dem Senat, dem Obersten Gerichtshof und dieser riesigen Zahl an fanatisierten, ja militanten Trump-Anhänger:innen gegen sich, dürften Biden die Hände für Reformen extrem gebunden sein.

Bericht von Hannah Freist (Aktive des LAF Berlin e.V.)

Teinahme verpaßt? Hier können Sie die Veranstaltung nachschauen:
https://www.youtube.com/watch?v=caJXtLwzd90&ab_channel=Lateinamerika-ForumBerline.V.

Zu dem zukünftigen Verhältnis Brasilien-USA hier ein Bericht der DW vom 7.11.2020 (portugiesisch).

Lesenswert: IPG 6.11.2020Verloren hat Amerika. Trump erkennt die drohende Wahlniederlage nicht an – das war erwartet worden. Doch auch die Demokraten müssen sich kritische Fragen gefallen lassen. Von Thomas L. Friedman

Foto Credits: Flickr, Gage Skidmore, Joe Biden, CC BY-SA 2.0