Haiti: Genug der Charity!

Haiti: Genug der Charity! Das katastrophale Erdbeben im Jahre 2010 ließ die bereits seit langem existierenden institutionellen Schwächen des haitianischen Staatsapparates noch deutlicher sichtbar werden. Wie im Falle anderer lateinamerikanischer Länder trugen in den 70/80er Jahren die von IWF und Weltbank für Kredite geforderten neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen ihren Teil zur Schwächung des Staates bei. Wirkliche Staatspräsenz […]

Haiti: Genug der Charity!

v.li: Wilfrid Edouard, Kirsten Bredenbeck, Achim Wachendorfer und Kurt Habermeier

Das katastrophale Erdbeben im Jahre 2010 ließ die bereits seit langem existierenden institutionellen Schwächen des haitianischen Staatsapparates noch deutlicher sichtbar werden. Wie im Falle anderer lateinamerikanischer Länder trugen in den 70/80er Jahren die von IWF und Weltbank für Kredite geforderten neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen ihren Teil zur Schwächung des Staates bei. Wirkliche Staatspräsenz findet sich heute nur in der Hauptstadt Haitis Port-au-Prince und selbst dort erfüllt der Staat seine rudimentärsten Aufgaben kaum. Vielfach wird von einem „failed state“ gesprochen.

Wilfrid Edouard erläuterte durch einen Blick in die Geschichte die strukturellen Ursachen der heutigen Situation.

Haiti – einstmals die reichste Kolonie Frankreichs und Land der ersten siegreichen Revolution in Lateinamerika und Karibik in 1803 – gilt heute als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre. War früher der Kaffee wichtigstes Exportprodukt, so sind es heute Menschen: Arbeitsmigrant*innen und Wirtschaftsgeflüchtete. Ihre Rücküberweisungen machten 2018 ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus, sind aber derzeit aufgrund von Wirtschaftskrisen und Ausländer*innenfeindlichkeit in den Zielländern rückläufig. Weite Teile des Landes sind verwüstet und degradiert. Nachdem Reisimporte aus den USA unter Clinton die lokale Produktion zerstörten, ist Haiti mehr denn je auf Lebensmittelimporte angewiesen, um seine Bevölkerung zu versorgen. War das Land 1986 noch in der Lage, 80% des Bedarfs an Grundnahrungsmitteln selbst zu produzieren, muss es diesen sowie den der Gebrauchsgüter heute fast vollständig durch Importe decken (liportal.de/haiti/).
Seit 1950 hat sich die Bevölkerung verdreifacht. Haiti zählt heute ca. 11 Mio. Einwohner*innen, 8,5 Mio. leben unter der Armutsgrenze (zum Vergleich: im flächenmäßig ähnlich großen Bundesland Brandenburg leben 2,5 Mio. Menschen).

Rücktritt gefordert

Haiti – vergessen, unbekannt, uninteressant?

Nach chaotischen Präsidentschaftswahlen, die ursprünglich für Oktober 2015 geplant waren und letztlich erst im November 2016 stattfanden, wurde Jovenel Moïse zum Präsidenten gewählt. Doch kaum im Amt richteten sich 2018 wütende Proteste gegen ihn. Statt Lösungen für die extreme Armut der Bevölkerung, steigende Lebenshaltungskosten, Lebensmittel- und Treibstoffknappheit zu finden, zeichnete sich seine Politik, wie die seines Vorgängers, durch Klientelismus und Elitenfreundlichkeit aus. Getragen werden die Proteste wesentlich von jungen Haitianer*innen. Die Protestierenden fordern den Rücktritt des Präsidenten, lehnen sich gegen die Nichtwahrnehmung der staatlichen Pflichten auf und kritisieren die Veruntreuung internationaler Gelder.
Die geschätzten drei Milliarden Dollar der PetroCaribe-Gelder, die Haitis Infrastruktur stärken sollten und sogar den Staatshaushalt des Landes überstiegen, wurden letztlich von den haitianischen Eliten zweckentfremdet, was durch junge Haitianer*innen aufgedeckt wurde, die sich in den Sozialen Medien vernetzten. Wirtschaftliche und politische Eliten instrumentalisieren den Staatsapparat zum eigenen Vorteil, während die restliche Gesellschaft kaum einen Zugang zu Bildung, Einkommen und dem Gesundheitswesen hat. 80-90% der Schulen sind in privater Hand (davon viele kirchlich), entsprechendes gilt für das Gesundheitswesen.
Besonders auffällig an den sozialen Protesten ist die stadt- und schichtübergreifende Teilnahme der Zivilgesellschaft im ganzen Land. Sie demonstriert, wie gravierend die Regierungsunfähigkeit von Moïse durch die Bevölkerung wahrgenommen wird. Zudem richten sich die Proteste gegen die zunehmende Gewalt, ausgeübt durch Gangs, die mit Regierung und Polizei in Verbindung gebracht werden, wie Kirsten Bredenbeck von Brot für die Welt ausführte.

Claudette Coulanges

Die internationale Öffentlichkeit schaut ausschließlich auf Haiti, wenn das Land von Naturkatastrophen heimgesucht wird. Von den 12 Mrd. US$ Hilfsgeldern, die zum Wiederaufbau des Landes nach der Erdbebenkatastrophe 2010 zusammenkamen, verschwand ein Großteil in dubiosen Kanälen.
Nicht nur der Präsident ist diskreditiert, die internationale Gemeinschaft ist es ebenso. Ihr wird eine Mitschuld an der desaströsen aktuellen Lage des Landes gegeben. Nach dem Erdbeben 2010 sollen sich rund 20.000 Nicht-Regierungsorganisationen um den „Wiederaufbau“ des Landes bemüht haben. Heute steht das Land schlechter da als vor dem Erdbeben. Die Protestierenden haben von Charity genug. Sie klagen ihre Rechte ein.
Die europäischen Länder sehen vornehm über Korruption und Menschenrechtsverletzungen hinweg oder stützen gar Moïse. Seine wichtigste Stütze aber hat der haitianische Präsident in US-Präsident Trump.  Im Gegenzug unterstützt Moïse die USA in ihrem Kreuzzug gegen Maduro.
Gibt es denn gar nichts Positives von der Halbinsel zu berichten? Kurt Habermeier, der viele Jahre für MISEREOR in der Region tätig war, plädiert für einen differenzierten Blick. Es gibt sehr wohl tragfähige Ansätze im Überlebenskampf. Diese sieht er vor allem in der agrarökologischen Bewegung. Zu den hoffnungsvollen Ansätzen ist auch die Arbeit von HaitiCare, angesiedelt zwischen Katastrophenhilfe und schulischer Bildung zu rechnen, die Michael Kaasch und Vanessa de Lacaze vorstellten.

Auf die Präsentationen folgte eine angeregte Diskussion. Besonders die Rolle der internationalen Gemeinschaft wurde kritisch beleuchtet und die Zukunft Haitis besorgt hinterfragt.

Michael Kaasch, HaitiCARE

Könnten Neuwahlen einen Ausweg aus der Krise bringen? Die Bevölkerung hat angesichts konstanter Wahlmanipulationen kein Vertrauen in Wahlen. Die Wahlbeteiligung betrug 2016 nur ca. 20%. Es mangelt an Vertrauen in die gesamte politische Klasse. Der Präsident ist zudem nicht bereit, sein Amt freiwillig niederzulegen. Bezeichnend für Haitis externe Abhängigkeit: 95% der letzten Wahlkosten wurden von der internationalen Gemeinschaft getragen.
Es ist wenig Optimismus angesagt. Doch noch ist der Traum von einem „neuen Haiti“ nicht ausgeträumt. Die Proteste machen leichte Hoffnung auf einen politischen Wandel.

Vanessa de Lacaze, HaitiCARE

 

„Vergessenes Haiti“ – Eine gut besuchte Veranstaltung mit Wilfrid Edouard (Ayiti), Kirsten Bredenbeck (Brot für die Welt) und Kurt Habermeier (ehem. Misereor). Moderation: Achim Wachendorfer

Ein Beitrag von Denise Klüber, unterstützt von Kristin Bergen und Werner Würtele

Foto Credits: Ramón Vasques & Werner Würtele